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ForscherAuftritt David Bosshart: Der Wert der Sinnlichkeit

Die nächste Generation, sagt David Bosshart, wird womöglich nicht mehr zwischen On- und Off-Shoppen unterscheiden. Für den stationären Handel ist sinnliches Erleben das Differenzierungsmerkmal schlechthin.

Von Sibylle Menzel | Fotos: GDI/Sandra Blaser

Nach einem kontaktlosen Einkauf berichten Shopper schon einmal vom ungewohnten Gefühl, „etwas zu stehlen“. Müssen wir unser Einkaufsverhalten anpassen?
Langfristig gesehen setzen wir einfach um, was technologisch machbar ist. Deutschland ist immer noch Bargeldland und in dieser Hinsicht ein Spätanpasser. Das muss nicht nur schlecht sein, angesichts der übersteigerten Euphorie für Bitcoin und ähnliche spekulative Zahlungsmittel. Wir können Parallelen zum Selfscanning erwarten: Es dauert je nach Kultur Monate oder Jahre, bis sich eine gefühlte Normalität durchsetzt.

Welche Wünsche müssen denn beim kontaktlosen Einkauf erfüllt werden?
Bequemlichkeit gewinnt – fast – immer. Dazu kommt natürlich die Sicherheit. Amazon hatte anfangs ja auch Probleme. Wenn mir ein anderer Kunde ein Produkt vom Regal überreichte, hatte dann dieser das Produkt auf seiner Rechnung. Aber die technologischen Anpassungen kommen sehr schnell – wir haben das gerade in der Pandemie gesehen. Wer ohnehin illusionäre hundertprozentige Sicherheit will, sollte es lassen – oder zuwarten, bis ausgereifte Technologie eingekauft werden kann.

Aus jedem kontaktlosen Einkauf resultieren individuelle Daten. Welche Folgen sehen Sie?
Den meisten Händlern fällt immer noch wenig Kluges ein, wie sie mit Daten produktiv umzugehen haben. Ich sehe aktuell vielmehr einen großen Trend: den zur Verschuldung der Kunden, insbesondere bei Jüngeren. Weltweit nimmt die Bedeutung von Bezahl-Apps schnell zu, auch dank der Pandemie. Schon bei den Kreditkarten haben wir gesehen, dass Umsätze rasch einstellig steigen, wenn ich als Kunde nicht mehr physisches Bargeld auf den Tisch legen muss. Das betrifft zwar andere Branchen mehr als den LEH. Aber der Trend, mit Bezahl-Apps und dem Slogan Buy Now, Pay Later (BNPL), „Kaufe jetzt, bezahle später“, nochmals deutlich mehr auszugeben, wirkt psychologisch unglaublich stark. Händler wollen und brauchen mehr Umsatz, und wenn nachweislich zweistellige Umsatzzuwächse erzielt werden können, bezahlt man eben auch höhere Gebühren, die Moral tritt in den Hintergrund. Aber auch BNPL ist eine Art von Kredit, die in der Summe den Kunden in eine teurere Verschuldung treibt. Psychologisch erhalten die Kunden ein „Einkaufstraining“ der neuen Art, bei dem der Faktor „Sofort-belohnung“ die zentrale Rolle spielt.

Im stationären Handel sind Nachhaltigkeit, Regionalität, Frische relevant. Sind das auch die Themen, mit denen sich der kontaktlose LEH differenzieren kann?
Selbstverständlich. Und es gibt zusätzlich Chancen für Direktvertreiber. Eine Unzahl von Kleinstformaten bietet bei entsprechendem Geschäftsmodell – zum Beispiel Bauernhöfen – die Möglichkeit, an Orten mit hohen Frequenzen einen Containerladen zu führen – Mutige werden experimentieren. Der generelle Trend, dass zeitliche Nähe entscheidend wird und die Ware zum Kunden kommt und nicht mehr umgekehrt, läuft ungebremst.

Wie beurteilen Sie den Status quo der Online-Auftritte des LEH?
Es werden alle ganzheitlicher und vernetzter denken und handeln lernen müssen. Die Kunden haben den Erstkontakt immer mehr über Online-Informationen aller Art, auch das „erzieht“ Verhalten in Richtung Bequemlichkeit, Sofortorientierung und höherer Anspruchshaltung für Dienstleistungen aller Art. Die nächste Generation wird vielleicht gar nicht mehr zwischen on und off unterscheiden können. Der physische Kontakt ist und bleibt das Wertvollste für die Kundenbeziehung. Online zerlegt die Sinnlichkeit in ihre Einzelteile und beschränkt auf Sehen und Hören. Also: Riechen, Schmecken und Tasten bieten die großen Chancen für die Differenzierung im stationären Handel.

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