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ForscherAuftritt: Zeit für Nachhaltigkeit 2.0

Die Themen Nachhaltigkeit und Fairtrade brauchen ein coronabedingtes Upgrade, und der Handel muss seine Rolle als filternder Gatekeeper gegenüber dem Kunden noch besser wahrnehmen, findet Psychologe Stefan Grünewald.

Von Alexander Thürer | Fotos: PR

Die Themen Nachhaltigkeit und Fairtrade brauchen ein coronabedingtes Upgrade, und der Handel muss seine Rolle als filternder Gatekeeper gegenüber dem Kunden noch besser wahrnehmen, findet Psychologe Stefan Grünewald.

Eine noch unklare politische Zukunft, der Klimawandel und durch Corona veränderte Realitäten … was bedeutet das alles für das Überthema Nachhaltigkeit?
Wir beobachten eine weitere Sensibilisierung. Nachhaltigkeit war bei den Menschen zwar schon lange erwünscht, wurde aber eher delegiert, etwa an den Handel. Der sollte sich als Gatekeeper darum kümmern, dass das alles passt. Durch Corona haben die Menschen aber gemerkt, dass sie selbst ihr Verhalten ändern können, etwa durch partiellen Verzicht. Das war eine Art Lernerfahrung.

Sehnen sich die Leute nicht nach der Freiheit und Unbeschwertheit der Vor-Corona-Zeit? 
Zum Teil schon, aber fest steht: Die Leute wollen nicht mehr zurück ins alte Hamsterrad. Sie wollen Arbeitszeiten reduzieren, suchen nach mehr Lebensqualität. Auf der anderen Seite erleben wir durch das Thema Homeoffice aber eine digitale Verdichtung. Die alte Pausenkultur, Flurgespräche und Kunden-besuche fallen weg. Das bringt viele an den Rand des Burnouts.

Klingt, als wären die Erwachsenen zunehmend mit sich selbst und den eigenen Problemen beschäftigt. Welche Rolle spielen die Forderungen der Jugend nach mehr Nachhaltigkeit in diesem Kontext?
Da wir in den letzten beiden Jahren sehr viel Zeit zu Hause verbracht haben, ist deren Einfluss im Privaten, also auf die Eltern, enorm gestiegen. Das Erziehungsverhalten hat sich geändert. Früher haben die Eltern ihre Kinder erzogen, heute erziehen die Kinder ihre Eltern. Da gibt es Erziehungseffekte bei der Ernährung, bei Fragen der Mobilität und des Reisens sowie in der Art der Sprache und bei Digitalem. Das spüren wir sogar bei großen Dax-Unternehmen, wo die Kinder der Vorstände diesen ins Gewissen reden und Druck machen, nachhaltiger zu arbeiten. 

Sie haben die Rolle des Handels als Gatekeeper in Fragen der Nachhaltigkeit angesprochen. Ist das noch wichtiger geworden?
Sicher. Das belegen auch einige Zahlen. Es gibt im Jahr 2021 eine Umsatzsteigerung von 17 Prozent bei Bio-Lebensmitteln, und die Nachfrage nach Gemüsekisten-Abos hat sich in der Krise verdoppelt. Das belegt, dass die Nachhaltigkeitsdenke sowohl durch Corona als auch durch die Gen Z nochmals befeuert wurde. Das bedeutet natürlich auch: Die Leute gehen mit ganz anderen Augen durch den Handel.

Worauf legen die Kunden dabei einen besonderen Wert?
Es dreht sich vor allem um die eigene Gesundheit. Nachhaltigkeit wird aber mehr und mehr zu einem konservativen Wert und gewinnt zunehmend einen regionalen Fokus, ganz nach dem Motto: Was interessieren mich die Erntehelfer in Nicaragua, wenn unsere Milchbauern nicht ordentlich entlohnt werden. Die Pandemie hat den Weltradius enorm geschrumpft. Man denkt in regionalen oder gar familiären Dimensionen. 

Ist das nicht eine Gefahr für das große Ziel der Nachhaltigkeits- oder auch Fairtrade-Bewegung?
Fairtrade ist mit dem Geist angetreten, die Welt nicht zu bewahren, sondern zum Besseren hin zu verändern – und das nicht lokal, sondern auf der ganzen Welt. Diesen Geist brauchen wir heute mehr denn je, denn globale Probleme lösen wir nicht allein durch Selbstbezüglichkeit und Regionalität. Fairtrade steht und streitet daher für eine nachhaltige Nachhaltigkeit 2.0, die nur funktioniert, wenn wir wieder über den regionalen Tellerrand auf das große Ganze blicken. Wenn wir das Thema Nachhaltigkeit globalisieren und bereit sind, die Welt zu verändern und etwas abzugeben, drehen wir uns nicht im kleinen Kreis fest, sondern bekommen die großen Klimafragen gelöst.

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