Sie haben nun das erste Jahr bei GS1 Germany hinter sich. Was hat sich verändert?
GS1 Germany hat über 40 Jahre hervorragende Arbeit geleistet. Damit wir auch weiterhin erfolgreich sein können, müssen wir uns zukunftsfähig aufstellen, uns transformieren. Das ist eine Aufgabe für das ganze Unternehmen, für jede Kollegin und jeden Kollegen, für das gesamte GS1 Germany Team. Im internen Strategieprozess haben wir uns die Frage gestellt, warum es GS1 gibt und warum wir auch künftig für den Markt, die unterschiedlichen Branchen, für unsere Kunden relevant sein werden. Erst die Beantwortung des ‚Warums‘ hilft uns im Folgenden das ‚Was‘ und ‚Wie‘ zu definieren. In internen Initiativen erarbeiten wir gemeinsam, wie wir uns künftig aufstellen und wie wir miteinander arbeiten wollen, wie sich der Austausch auch mit anderen GS1 Organisationen optimieren lässt, was wir aus Fehlern lernen und wie wir noch zielgerichteter die Kundenbedürfnisse fokussieren können. Der Abbau von Hierarchien, das im wahrsten Sinne des Wortes Einreißen von Wänden für mehr gemeinsamen Raum und Out of the box-Denken stehen für unsere neue Arbeitsweise und sind doch auch erst der Anfang hin zu einer agilen und kollaborativen Organisation. Dies ist nötig, um auch weiterhin Impulsgeber, Entwickler, Partner und Wegbegleiter für unsere Kunden sein zu können.
Standards und Prozesse – dafür ist GS1 bekannt. Bleibt das so, auch in Zukunft?
Auf jeden Fall. Wir waren immer Standardisierer und werden es weiterhin sein, das ist unser Wesenskern. Jedoch steigen Bedeutung, Mehrwert und Nutzen von neutralen Plattformen in Zeiten exponentiellen technologischen Wachstums. Die Verdopplerei der Gegenwart stellt Unternehmen vor große Herausforderungen. Im Spannungsfeld zwischen etablierten Systemen, Kundenwünschen und Technologiefortschritt müssen Alle Antworten auf eine rasant steigende Marktdynamik finden, auf immer kürzere Innovationszyklen und einen stets wachsenden Grad an Komplexität. Da geht es besser gemeinsam statt alleine – es braucht Kollaboration. GS1 Germany ist die Plattform dafür. Bei uns arbeiten Unternehmen – auch Wettbewerber – gemeinsam in Projekten, um Antworten auf die Fragen von heute und morgen zu erhalten. Unser Handeln richtet sich dabei immer danach aus, einen wirklichen Mehrwert für die Community zu schaffen und die Verbreitung unserer Standards weiter voranzutreiben.
Sie wenden den Kollaborationsgedanken auch bei neuen Technologien an, zum Beispiel beim Pilotprojekt zum Thema Blockchain. Was sind die Erkenntnisse?
Blockchain wird als das Wundermittel schlechthin gehypt. Uns interessierte: Wieviel Potenzial steckt tatsächlich in Blockchain? Der Palettentauschprozess war rückblickend ein durchweg dankbarer Anwendungsfall. Gemeinsam mit 35 Unternehmen definierten wir als Projektziel, den Palettenschein, den es zunächst noch zu digitalisieren galt, und den Palettentauschprozess in eine Blockchain zu überführen. Dabei stand für uns der Erkenntnisgewinn, die Erprobung dieser neuen Technologie, an vorderster Stelle. Wir wollten wissen, ob sich der Tauschprozess mit Blockchain für die Beteiligten im Tagesgeschäft an der Rampe transparenter und effizienter gestalten lässt.
Hat das geklappt?
Die Technologie, also das Aufsetzen der Blockchain, war das geringste Problem. Die größeren Herausforderungen zeigten sich eher auf organisatorisch-politischer Ebene, denn Blockchain setzt einen Kulturwandel voraus. Beispielsweise wird die Bedeutung von Vertrauen im Zusammenhang mit Digitalisierung und Blockchain oftmals total unterschätzt. Denn der Mut zur Transparenz wächst erst mit dem Vertrauen in die Technologie und in die Netzwerkpartner, von denen es im Projekt ja 35 gab. Selbst bei weniger heiklen Daten wie Palettenkontoständen existierten Befindlichkeiten hinsichtlich Datenschutz, Privacy oder wettbewerbsrelevanter Informationen. Das Ergebnis bisher: Ja, Blockchain hat den Palettentausch im Projekt effizienter gemacht. Besonders interessant war für uns als GS1 die Erkenntnis, dass Blockchain ein Katalysator für Kollaboration ist und dass es für die Moderation dieser eben doch nicht immer ganz ohne einen Intermediär, eine neutrale Plattform geht. Aber Blockchain ist kein Selbstzweck. Es gilt noch einige Fragen zu beantworten. Deswegen werden wir das Projekt dieses Jahr fortsetzen.
Welche Technologien außer Blockchain werden Konsumgüterbranche und Handel – Ihrer Meinung nach in den nächsten Jahren am stärksten verändern?
Während einerseits die Automatisierung an Bedeutung gewinnen wird, werden andererseits menschliche Fähigkeiten wie Empathie und Intuition wieder entscheidender. Außerdem wird eine Kombination aus Künstlicher Intelligenz (KI), Cloud Computing und 5G-Mobilfunk für ein komplett neues Einkaufserlebnis am Point of Sale sorgen: Theoretisch könnte jeder Kunde jedes Produkt mit dem Smartphone scannen und in Echtzeit alle für ihn relevanten Informationen erhalten – maßgeschneidert auf seine persönlichen Interessen und inklusive individueller Preise. Sicherlich wird auch das Thema Sprachsteuerung bzw. Voice Commerce immer wichtiger werden – KI-Systeme wie Alexa lernen ja extrem schnell. Und dann natürlich Internet of Things, also Systeme, die miteinander kommunizieren und z.B. automatische Bestellungen auslösen können. Doch wir dürfen eines nicht vergessen: Hinter all den Technologien stecken doch die Bedürfnisse des Menschen. Der Shopper wird also einen wesentlichen Anteil daran haben, worauf sich Hersteller und Händler einzustellen haben. Wir wissen, dass der Shopper nicht mehr in Einkaufskanälen unterscheidet. Für ihn gibt es kein online oder stationär. Beide Kanäle wachsen zu einer Einkaufsrealität zusammen. Dies bringt ganz andere Anforderungen an Supply und Demand Side mit sich, beispielsweise in Bezug auf die Produktverfügbarkeit am Point of Sale – egal ob im virtuellen und realen Regal.
Dabei haben wir immer mehr Daten zur Verfügung. Wie werden wir sie künftig nutzen?
Uns werden künftig mehr Informationen in einer wesentlich granularen Form zur Verfügung stehen, und zwar in Echtzeit. Das bedeutet auch, bessere Prognosen durch den Einsatz von KI treffen zu können, die auch Verkehrs-, Klima oder Event-Daten einschließen. Dank KI wird zum Beispiel der Drogeriemarkthändler in Köln wissen, welche Produkte in einer bestimmten Filiale während der Karnevalszeit bei Regenwetter gefragt sein werden. Und er wird wissen, welche Artikel online bestellt werden und damit vorrätig sein sollten, wenn fünf Kindergärten in der Nähe ein Sommerfest planen. Generell wird sich ein Händler selbst viel weniger um Bestellungen kümmern müssen. Und wir Menschen sollten auch nicht versuchen, es besser als der Computer zu machen. Dafür gewinnt der Händler aber etwas Entscheidendes dazu: Er kann wieder mehr und persönlich mit seinen Kunden sprechen – und von Bedürfnissen erfahren, die KI noch nicht kennt.
Ist der Lebensmittelhandel in der Lage, solche Innovationen umzusetzen?
Das ist sicher unterschiedlich, und zunächst einmal hat die Branche mit der Digitalisierung an sich genug zu tun. Eine große Herausforderung, das wissen wir auch aus dem Mittelstand 4.0-Kompetenzzentrum eStandards, das wir leiten. Dessen Zweck ist es, mittelständische Unternehmen bundesweit bei der Digitalisierung zu unterstützen. Wir sehen immer wieder, dass Firmen bereits Schwierigkeiten haben, grundlegende Themen wie EDI und elektronische Rechnung umzusetzen.
Category Management ist auch ein Thema, das bei GS1 im Fokus steht. Gewinnt es weiter an Relevanz?
Die Relevanz des Themas steigt weiter, ja. Bundesweit haben wir bereits 3.000 Category Manager zertifiziert. Dabei verändern sich allerdings die Schwerpunkte mehr und mehr. Das Category Management (CM) im Omnichannel-Betrieb, also für die stationär und online angebotenen Sortimente, gewinnt an Bedeutung, aber auch Total Store-Konzepte und insgesamt Sortiments- und Platzierungsoptimierung. Im LEH beschäftigt sich heute beinahe jeder Händler mit CM – vermehrt auch die Discounter, denn sie wollen auf Augenhöhe mit der Industrie sein.
Wenn alle technologischen Dinge, die Sie angesprochen haben, verwirklicht werden – kommt der Mensch da noch mit? Oder fühlt er sich überfordert dabei?
Ich denke, hier eine allgemeingültige Aussage zu treffen, ist schlicht unmöglich. Denn Technologiefortschritt empfindet jeder anders – was sicherlich auch davon abhängt, welcher Generation man angehört. Die Millennials erleben Digitalisierung doch ganz anders als die Babyboomer. Aber für das exponentielle technologische Wachstum scheint es – zumindest zunächst – keinen Rückwärtsgang zu geben. Hier gilt es, einer digitalen Verantwortung nachzukommen und immer im Bewusstsein darüber zu handeln, dass die Technologie dem Menschen dient und nicht umgekehrt.
GS1-Geschäftsführer Thomas Fell: Die digitale Zukunft des LEH
Thomas Fell empfängt zum Gespräch im Shopper Experience Center der GS1 in Köln. Hier wird in einem modelltypischen Supermarkt die Zukunft des LEH erprobt: Voice Commerce, Navigation im Markt und individuelle Promotions auf dem Smartphone sind derzeit die übergreifenden Themen.
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