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Forscherauftritt Stephan Grünewald: Supermärkte als fürsorgliche Anker

Stephan Grünewald vom Rheingold Institut gewährt Einblick in sein neues Buch und erklärt, was die Krisen der Gegenwart mit dem LEH zu tun haben – und warum der Supermarkt dabei eine heilende Rolle spielt.

Von Marcelo Crescenti | Fotos: Unternehmen

Ihr neues Buch* erscheint in Oktober, darin umreißen sie das „Psychogramm einer unsicheren Gesellschaft“. Wie ist die Lage?

Wir haben in Deutschland derzeit eine Krise der sozialen Verbundenheit. Viele Menschen verschanzen sich in sozialen Bollwerken und blenden andere Meinungen aus, dazu wächst die Selbstbezüglichkeit – es gibt eine Art Wagenburg-Mentalität. Die Aggressivität nimmt zu. Da bricht uns gerade was weg. Wenn das so weitergeht, verlieren wir den Zusammenhalt in der Gesellschaft. Interessanterweise spielen Supermärkte in diesem Kontext, bei dem Menschen den Wunsch nach Sicherheit und Geborgenheit spüren, eine ganz wichtige Rolle.

Das müssen Sie erklären. 

Der Supermarkt ist ein fürsorglicher Anker im Alltag. Er ist auch einer der letzten demokratischen Erlebnisorte, in denen man aus der eigenen Blase tritt und mit anderen Menschen in den Austausch geht. Im LEH ist die Welt für die Kunden noch in Ordnung, hier funktioniert alles, das Angebot ist breit. Der Akt des Einkaufs bietet zudem eine stabilisierende Selbstwirksamkeit. Und man sollte den sozialen Aspekt nicht unterschätzen: In einer Zeit, in der sich immer mehr Menschen ins Schneckenhaus zurückziehen, findet hier nach wie vor der wärmende Plausch an der Kasse statt.

In diesem Heft berichten wir darüber, dass automatisierte Supermärkte auf dem Vormarsch sind. Da wird nicht mehr geplauscht.

Solche 24/7-Konzepte passen in die Zeit, sie stehen für eine effiziente Selbstversorgung. Ich möchte aber hier eine Lanze für den bemannten (oder befrauten) stationären Markt brechen. Supermärkte dienen nicht nur der kapitalistischen Gewinnmaximierung, sondern haben auch eine soziale Funktion. Sie bieten Aufenthaltsqualität und sind ein Begegnungsort, der jedoch auch eine gewisse soziale Kon-trolle braucht. Wenn das Bestreben nach Effizienz überhandnimmt und das moderierende und fürsorgliche Personal durch immer mehr Technik im Markt ersetzt wird, auch in Gestalt von SB-Kassen, kann dies zur Verrohung der Gesellschaft beitragen. Das sollte nicht unterschätzt werden.

Wir berichten ebenfalls über das Wachstum bei Lieferdiensten. Wie sieht das aus Ihrer Warte aus?

Lieferdienste haben ihre Berechtigung, vor allem für Ergänzungskäufe. Wenn sich aber die Menschen immer öfter kontaktlos und anonym versorgen, wenn sie noch länger zu Hause bleiben, im wohltemperierten Homeoffice, und die Welt nur durch den Bildschirm sehen, dann führt das zu einem Wirklichkeitsentzug. Man verliert den Bezug zur Welt. Es ist, wie wenn man zu lange in der warmen Badewanne sitzt: Es ist zwar schön und kuschelig warm, doch irgendwann spürt man sich nicht mehr.

Woraus kann man in diesen Zeiten Optimismus schöpfen?
Aus der Tatsache, dass die Gesellschaft in Notzeiten zusammenhält und in der Lage ist, gemeinsam etwas zu bewegen. Das ist zum Beispiel bei der Energiekrise passiert, als uns das Gas auszugehen drohte. Da haben alle gespart und mitgemacht, und die Bundesregierung hat konkrete Schritte unternommen, um die Notlage abzuwenden. Am Ende war es ein Verdienst von uns allen, dass 20 Prozent an Gas gespart wurden. Die Krise blieb aus.
Es gibt in Deutschland eine gestaute Bewegungsenergie. Die Politik muss jetzt klare Ansagen machen und aktivierende Handlungs-
perspektiven eröffnen. Dann ist die Chance da, dass diese Energie etwas im Lande bewegt.
 

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