Wenn Sie den Deutschen aktuell in die Köpfe schauen... was sehen Sie da?
Wir bewegen uns gerade in einer Welt der gespaltenen Zuversicht. 87 Prozent schauen mit Zuversicht auf ihr privates Leben, aber nur 23 Prozent denken bei Politik und Gesellschaft positiv. Die Größe dieses Unterschieds ist wirklich neu. Alles, was in der äußeren Welt beunruhigt, Krieg, Migrationsprobleme, Klimawandel, wird ausgeblendet, man begeht eine Flucht vor der Wirklichkeit. Durch diesen Vorhang dringt nur das durch, was für den eigenen Alltag relevant ist. Wir haben zudem vier Angstkreise identifiziert: die Angst vor einem Autonomieverlust, die Angst vor der sozialen Entzweiung, die Angst vor dem deutschen Substanzverlust und zuletzt die Angst vor dem Klimawandel, der den eigenen Alltag aber noch nicht großartig tangiert. Man profitiert ja eher von den 23 Grad im Oktober.
Immerhin: Die Zukunftsfreude scheint noch nicht gänzlich verloren. Worauf stützt sich diese Zuversicht im Privaten?
Die Zuversicht im privaten Kontext ist tatsächlich ermutigend. Wir haben hierbei drei Kraftquellen identifiziert, woraus sich diese speist: Erstens Selbstmodellierung, d.h. überall dort, wo ich mit meinem Handeln selbst etwas ausrichten kann, sind die Leute zuversichtlich. Zweite Quelle sind die heimischen Wohlfühloasen, die gerne gepflegt und ausgebaut werden. Dazu zählen auch Urlaub und Natur, aber der Kern sind die eigenen vier Wände. Dritter Faktor sind die sozialen Bollwerke. Man sucht sein Heil in der Gemeinschaft. Aber: Diese Bollwerke werden immer hermetischer. Andersdenkende werden aus dem Freundeskreis aussortiert. Solidarität findet nur noch im kleinen Kreis statt und wird zu einer Art „Silo-darität“ was für eine Demokratie fatal ist. Je weniger man im Austausch ist, desto mehr innere Stabilität schaffen diese „Silos“ durch Radikalisierung ihres Standpunktes. Wir haben noch keine amerikanischen Verhältnisse, aber wir entzweien uns gerade.
Wir stehen derzeit sowohl global wie gesellschaftlich vor großen Herausforderungen. Rührt daher diese Flucht ins Private?
Wir sehen momentan zwei große Hemmnisse, die die Leute beschäftigen. Zum einen eine Art Ablasshandel, mit der Menschen ihre Resignation rechtfertigen, dergestalt, dass sie sagen „Ich gehe ja arbeiten und zahle Steuern. Das muss reichen.“ Daneben gibt es kleine Verzichtsdemonstrationen, wie weniger Fleisch zu essen oder mehr Fahrrad zu fahren. Ein zweiter Faktor für diese resignative Passivität sind Erlösungshoffnungen. Da finden wir drei Formen: Technologie und Fortschritt, die uns retten werden, das Vertrauen auf die nächste Generation, die es richten wird, sowie das Definieren von Sündenböcken, die uns das alles eingebrockt haben und die es vom Hof zu jagen gilt. Von Letzterem Narrativ profitiert übrigens gerade besonders die AfD.
Wie können diese Hemmnisse überwunden werden?
Was das angeht, haben wir eine Kitt-Cut-Strategie entwickelt, die erklärt, wie man diese Rückzugstrategien abfedern ‒ also „kitten“ – kann, gleichzeitig aber auch zeigt, wie man – „cut“ – zum Aufbruch motivieren kann. Dabei haben wir je drei Faktoren identifiziert, die auch für den Handel interessant sind. Erstens alles, was verspricht, aus der Ohnmacht herauszukommen. Das kann ein nachhaltiges Putzmittel oder ein Kochrezept sein.
Zweitens: Einfache Genüsse, also zum Beispiel traditionelle Gerichte kochen, Burger aus der Hand essen oder auch der Outdoor-Trend. Hier können Handel und Marken die Rolle der Genusslegitimation übernehmen. Ein weiterer Faktor sind Bewegungsanreize. Das können Punktesammelaktionen – etwa für Vereine – sein, die das Gefühl geben, für das große Ganze etwas Gutes zu tun. Zukunftsvisionen brauchen eben immer ein Bild, so etwas wie die Vorstellung vom Seeweg nach Indien. Im Retrotrend werden alte Aufbruchs- und Geborgenheitsbilder recycelt. Der Handel könnte hier eine produktive Zukunftsvision errichten.
Stephan Grünewald
Der Psychologe und Autor leitet das Rheingold Institut. Hier wechselt er sich mit David Bosshart, Florian Klaus und Martin Fassnacht ab. www.stephangruenewald.de