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ForscherAuftritt Stephan Grünewald: Raubtier vs. Unschuldslamm

Wie kann der LEH in Krisenzeiten Emotionen wecken? Bei seiner umfassenden Analyse hat Stephan Grünewald spezifische Kundengruppen identifiziert, die es am PoS mit Erlebniswelten gezielt anzusprechen gilt.

Stephan Grünewald, Geschäftsführer, Rheingold Institut (Foto: Rheingold Institut)
Von Mirko Jeschke | Fotos: Rheingold Institut

Vorab, Herr Grünewald, wie ist angesichts von Ukrainekrieg, Inflation und endlosen Heizungsdebatten derzeit das Stimmungsbild unter den Verbrauchern?
Es ist durchaus geteilt. Mehrheitlich herrscht jedoch eine resignative Stimmung mit wenig Optimismus. Die meisten Konsumenten spüren derzeit nämlich keine Zeitenwende, sondern sehen sich vielmehr in einer Art Nachspielzeit. Sie hoffen darauf, ihre aktuellen Zustände erhalten zu können, kämpfen sich irgendwie durch und befürchten dennoch, dass das „dicke Ende“ noch bevorsteht. Stichwort Klimawandel, marode Infrastruktur et cetera. All das führt zu einer wachsenden Skepsis gegenüber der Politik und dazu, dass sich viele auf ihr privates Schneckenhaus konzentrieren.

Das hatten wir schon einmal bei Corona, oder? 
Richtig. Und auch heute werden die multiplen Krisen im Alltag zunehmend ausgeblendet. Ihre Zuversicht suchen die Menschen daher eher im Inneren, die Folge ist – ähnlich wie in den Corona-Jahren – eine gestiegene Selbstbezüglichkeit. Allen Krisen ist die Angst vor Autonomieverlust gemein, sprich ein kollektives Ohnmachtserleben.

Was also kann der LEH in diesen anhaltenden Krisenzeiten tun, um erfolgreich Kaufanreize zu setzen?
Er sollte vor allem differenzierte Erlebnislandschaften entwickeln, seine Kunden etwa im Weinbereich in eine eigene Welt abtauchen lassen oder bei Internationalen Spezialitäten deren Urlaubsgefühle wecken. Ziel muss es sein, den Einkauf zu einer echten Erlebnisreise werden zu lassen. Denn viele Verbraucher sehen die Welt „da draußen“ zunehmend als feindlich an. Der LEH kann hier als eine Art Zwischenraum mit Behaglichkeit und Überschaubarkeit fungieren. Dafür muss er sich aber viel stärker mit der Psychologie bestimmter Kategorien auseinandersetzen.

Was bedeutet das konkret?
Nehmen Sie den Wurst-/Fleischbereich. Hier stehen die sogenannten Fleischfresser mit einer archaischen Fleischeslust – in unserer Studie als Gruppe der „Raubtiere“ bezeichnet – den naturverbundenen, tierfreundlichen Veganern, den „Unschuldslämmern“, unvereinbar gegenüber. Der LEH muss gerade deshalb eine Angebotsvielfalt bieten und braucht dazu ganz unterschiedliche Ladeninszenierungen.

Während man die erste Gruppe etwa mit Themen und Motiven mit Bezug zum Jagen, Feuer, Leder und Ähnlichem abholen kann, braucht es für die zweite Gruppe eher eine Bauernhofidylle, die den Einklang mit der Natur und eine Art Befreiung von Schuldgefühlen verspricht. Hierbei können Naturmaterialien wie Sackleinen, Holz, Schiefer und Kork zum Einsatz kommen.

Beim Grillen adressiert der LEH inzwischen beide Gruppen gleichermaßen, auch wenn der Großteil des Grillguts nach wie vor klassische Fleischprodukte sind …
Grillen inszeniert im Grunde das Thema Fleisch als Gemeinschaftserlebnis. Gerade deshalb sollte es an der Fleisch-/Wursttheke eine große Vielfalt für die unterschiedlichen Präferenzen geben. Hierbei können Motive und Illustrationen hilfreich sein, die vor allem das Zusammenkommen von Menschen zeigen.

In welchen Bereichen ist Ihrer Einschätzung nach mit den größten Zuwachsraten zu rechnen?
Aus unseren Untersuchungen geht hervor, dass insbesondere in drei großen Bereichen künftig eine anhaltend hohe Nachfrage herrschen dürfte: einerseits Fleisch, gepaart mit dem Thema Vitalität beziehungsweise einem Fitnessaspekt, dann der Bereich Genießertum mit Fleischspezialitäten, die in eine kultivierte Richtung gehen – auch mit neuen Darreichungsformen –, sowie schließlich das immer breiter werdende Segment um Veggie- und vegane Produkte.


Stephan Grünewald

Der Psychologe und Autor leitet das Rheingold Institut. Hier wechselt er sich mit David Bosshart, Florian Klaus und Martin Fassnacht ab. www.stephangruenewald.de

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