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ForscherAuftritt Stephan Grünewald: Nachhaltigkeit – Mehr als ein Hygienefaktor?

Mit Greta Thunberg und Fridays for Future hat das Thema Nachhaltigkeit kräftig an Fahrt aufgenommen. In Zeiten geopolitischer Unsicherheiten verliert es jedoch an Dynamik. Stephan Grünewald erklärt, worauf es jetzt ankommt.

Stephan Grünewald, Geschäftsführer, Rheingold Institut (Foto: Rheingold Institut)
Von Mirko Jeschke | Fotos: Rheingold Institut

Herr Grünewald, das Thema Nachhaltigkeit und die Einhaltung von Klimazielen scheinen in Zeiten geopolitischer Verwerfungen, angesichts von Krieg und Krise, zunehmend in den Hintergrund zu rücken. Haben die Menschen zurzeit nicht ganz andere Sorgen?
Das Thema ist nach wie vor sehr relevant, wird aber durch den aktuellen Krisenfokus überschattet. Die größte Angst der Menschen ist, dass sie – etwa durch eine Eskalation des Ukrainekrieges – wieder in eine Ohnmachtssituation kommen, gefolgt von der Sorge vor der zunehmenden Aggressivität und Polarisierung der Gesellschaft. Ein weiterer Trigger ist der drohende Substanzverlust, also die wirtschaftliche Abschwächung des Landes und die damit einhergehende Beeinträchtigung der Wohlstandsperspektive. Gleichzeitig wird den Bürgern die Bedrohung des Klimawandels immer wieder vor Augen geführt, jüngstes Beispiel sind die verheerenden Überschwemmungen in Spanien.

Welche Rolle hat die Industrie beim Thema Nachhaltigkeit? 
Die Menschen sehnen sich nach Unbeschwertheit und wünschen sich von den Unternehmen, dass sie die Probleme mit Blick auf Nachhaltigkeitsfragen lösen – ihnen damit den Rücken freihalten. Das wäre sozusagen eine Art der Verantwortungsdelegation, die gleichzeitig eine Genusslegitimation darstellt. Umgekehrt gesprochen: Sollte ein Unternehmen bzw. eine Marke in einen Skandal verwickelt werden, würde diese Entlastungsfunktion natürlich wieder entfallen.

Konkret zur Food-Branche: Welche Aspekte der Nachhaltigkeit sind Konsumenten am wichtigsten? Und: Ist Nachhaltigkeit per se ein USP?
Bei Lebensmitteln schauen die Konsumenten stark auf Bio-Qualität und auf Regionalität. Letzteres hängt auch mit dem Heimattrend zusammen, in dem sich eine Art mütterliche Versorgungsidylle ausdrückt. Zudem spielt das Thema Verpackung eine große Rolle. Daher ist Nachhaltigkeit in jedem Fall ein wichtiger Hygienefaktor. Ob er wirklich immer ein USP sein kann, muss jeweils im Einzelfall untersucht werden.

Mit Ihrem greenCheck-Tool, Teil der Rheingold greenStrategy, können Unternehmen genau das herausfinden. Welche Werkzeuge für eine maßgeschneiderte Nachhaltigkeitsstrategie bieten Sie noch?
Beim sogenannten greenRadar führen wir eine 360-Grad-Analyse verschiedener Nachhaltigkeitsfaktoren durch, um die Kunden-, die Markt- und die Unternehmensperspektive zusammenzubringen und so für das Unternehmen einen relevanten nachhaltigen Differenzierungsfaktor herauszuarbeiten.

Können Sie ein Beispiel geben, bei dem der Fokus auf Nachhaltigkeit besonders gut gelungen ist?
Frosta etwa hat es geschafft, mit dem Reinheitsgebot eine klare und nachvollziehbare Botschaft an die Konsumenten zu senden. Diese verbindet ein reines Geschmackserlebnis mit nachhaltigen Maßnahmen im Hinblick auf Verpackung, Biodiversität oder soziales Engagement, die wiederum ein reines Gewissen beim Konsumenten erzeugen. Für andere Hersteller, die ständig neue Produktwelten präsentieren, ist es dagegen kontraproduktiv, sich kommunikativ zu sehr auf Nachhaltigkeit zu fokussieren.

Wie könnte der LEH dieses Themenfeld sinnvoll aufgreifen?
Nachhaltigkeitsaspekte sollten weder in den Vordergrund gestellt werden, noch sollten sie eine Fußnote bleiben. Dem Handel müsste es gelingen, eine kommunikative Klammer zu finden, in der das Thema Nachhaltigkeit auf Augenhöhe mit seinen weiteren Versprechen wie Produktqualität und Service gespielt wird. So könnten Botschaften, wie die Liebe zu Lebensmitteln (Edeka) oder eine Revitalisierung beim Einkauf (Rewe), in einem größeren Kontext auch das Wohlergehen der Menschen oder den Erhalt der Umwelt mit aufgreifen.


Stephan Grünewald

Der Psychologe und Autor leitet das Rheingold Institut. In der Rubrik "ForscherAuftritt" wechselt er sich mit David Bosshart, Florian Klaus und Martin Fassnacht ab. www.stephangruenewald.de

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