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Grün aus der Cloud

Digital optimierte Pflanzenzucht soll Ressourcen schonen und Top-Qualität aus der Region liefern. Das Berliner Start-up Infarm sammelte bereits eine Viertel Milliarde Euro an Investorengeldern ein und betreibt in Deutschland in vielen Lebensmittelmärkten seine Kräutergewächsstationen. Ein seltener Blick hinter die Kulissen eines Techunternehmens.

Von Martina Kausch | Fotos: Infarm, Hans-Rudolf Schulz, Martina Kausch

Am Ende der Straße eine neue Welt. Gartenfelderstraße heißt die Adresse, aber weder einen Garten noch Felder gibt es hier. Nichts deutet an der Einfahrt zu dem alten Industriegelände in Berlin Spandau darauf hin, dass hier ein Unternehmen expandiert, von dem mancher Investor noch in diesem Jahr Bedeutendes erwartet. Den Börsengang nämlich und damit den Ritterschlag zur Kategorie der Unicorns, der mit über einer Milliarde US-Dollar bewerteten Start-ups. Verwundert steht man hinter alten Lagerhallen und verrottenden Schienenanlagen vor einem grauen hohen Gebäude, das sich eigentlich nicht von der Umgebung unterscheidet. Infarm steht dran. Es ummantelt „Infarms High-Capacity, Large-Scale Growing Center“ als Teil eines globalen Farming-Netzwerkes.

Monatelang werden Mails hin und hergeschickt, Reminder formuliert, Meetings abgewartet und Telefongespräche geführt, bis das Unternehmen einwilligt, eine Journalistin durch die Anlage zu führen. Und selbst dann gestaltet sich die Dokumentation besonders. Die an der Digitalanzeige des Wachstumscontainers sichtbare Temperaturangabe oder die Kennzahlen des Luftwechsels der Klimaanlage bitte nicht notieren. Und den Blick durchs kleine Fenster in das Pilzkulturenregal fotografieren? Auf gar keinen Fall.

High Capacity in der alten Halle

Derart sensibilisiert für das Thema Indus-triespionage gewinnt man trotz der zurückhaltenden Kommunikationspolitik vor Ort einen Einblick in das Unternehmen, entsteht ein Mosaik verschiedenster Eindrücke und Informationen. Was passt zusammen? Da gibt es die Mitarbeiter, die neben dem Personaleingang vor der alten Halle sitzen, mit Corona-Abstand an einfachen Tischen auf dem Berliner Sandboden, die meisten weit unter Dreißig. Später sieht man sie in Schutzkleidung in der Halle Pflanzen um- und verpacken. In der Kantine werden sie ausschließlich vegetarisch verpflegt. Ob der Kaffee auch aus fairem Handel stammt? Gratis-Kräuter für den gesunden Eigenverbrauch gibt es als Incentive für die Kollegen jedenfalls nicht, so die Auskunft. Andererseits: circa 15 Prozent der weltweit rund 900 Mitarbeiter sind in den Bereichen Crop Science, Hardware, Software, Digital Product Management und Design tätig.

Stichwort Schutzkleidung: Vor dem Betreten der großen Halle wird die in der Lebensmittelproduktion übliche Desinfektionsprozedur absolviert. Plastikmantel an, Vlieshaube auf den Kopf, Eisentür auf – dann der Blick in die Halle. Das also ist ein Infarm Growing Center. Fünfzig gibt es aktuell weltweit, hundert sollen es laut Geschäftsplan bis 2025 werden. Beim Dauerrauschen der Klimasystemmotoren kann man sich noch gut unterhalten, den leicht frischen Geruch erwähnt die Begleiterin angetan. Auf dem alten Granitboden der Halle, in denen früher Waschmaschinen eines deutschen Markenherstellers gefertigt wurden, sind hellgraue containerähnliche Metallboxen mit geriffelter Wand gestapelt.

Das sind sie, die „Farmen“ modernster Agrarwirtschaft: eine Box ist gleich eine Farm, eine Farming Unit. Außen am Metall sind am Ende der Kabelbrücke bunte Kabel und Rohre sichtbar, auf Augenhöhe zeigt das System außen an der Box in einer Digitalanzeige die Klimawerte an: Temperatur, Zuluft, Abluft, Volumenstrom, Luftfeuchtigkeit. Laut Logo Klimatechnik aus Hessen für die Pflanze der Zukunft. „Das modulare System ist je nach Standortort bis zu 18 Meter hoch stapelbar, hier sind die Farmen elf Meter hoch gestapelt“, erläutert Samuel Zerbst aus dem Hardware Engineering Team Lead. Mitten in der Halle Absperrungen und Metallgerüste: Das Growing Center ist auf Zuwachs angelegt.

Dann der Blick in die Box. Infarm-Systme bringe nicht das Wasser zur Pflanze sondern die Pflanze zum Wasser, so Samuel Zerbst. In Reih und Glied wächst auf einer Grundfläche von 25 Quadratmetern die Ware heran, Pflanzen je nach Farm gestaffelt nach Sorte und Größe, hell durch LED-Röhren belichtet. Auf 30 Metallregaletagen sind auf zwei Seiten Pflanzschalen vertikal gestapelt, in der Mitte die Automatisation. Der Heber an Metallketten tauscht die Kästen mit rasselndem Lärm. Alles basiere auf Software. Man gebe den Pflanzen das, was sie brauchen, wann sie es brauchen, 24 Stunden täglich, erklärt Zerbst die Grundidee. Und das Schöne sei: Im Gegensatz zu einem Landwirt auf dem Feld könne er in den Urlaub fahren – die Systeme laufen cloudgesteuert.

Die Cloud macht’s

Keinerlei Ressource zu verschwenden oder, positiv formuliert, jeglichen Einsatz von Wasser, Nährstoffen, Wärme, Luft jeder Pflanze in perfekter Abstimmung adäquat zuzuführen, das ist die Grundidee des Vertical Farming. Das ist kompliziert angesichts der bei jedem Grün unterschiedlichen Bedürfnisse – und gibt Datenmengen für die Cloud. „Das gesamte Infarm-Netzwerk ist mit einem Farm-Brain verbunden, das über die Lebensdauer einer jeden Pflanze über 50.000 Wachstums-, Farb- und Spektraldatenpunkte sammelt”, so Guy Galonska, Co-Founder und Chief Technology Officer bei Infarm.

300 Milliarden bislang gesammelte Datenpunkte ermöglichten Optimierung.  Ziel der Forschung sei, mit jeder Pflanze dazuzulernen, den Ertrag, die Qualität und den Nährwert der Pflanzen zu verbessern und gleichzeitig die Produktionskosten zu senken, ergänzt Pavlos Kalaitzoglou, Director of Crop Science. Im Sinne der Nachhaltigkeit verursachten diese Farmen durchschnittlich 90 Prozent weniger Transportwege, verbrauchten 95 Prozent weniger Wasser als traditionelle Landwirtschaft und kämen ohne chemische Pestizide aus.

Vom LEH bis in die Megacity

Infarm ist in Deutschland in erster Linie durch die Farmen im LEH bekannt. In vielen Märkten von Rewe-Händlern, bei Edeka, Kaufland und Aldi stehen die Gewächshäuser, alle zentral verbunden mit der Cloud, individuell betreut von Infarm-Mitarbeitern, die die Anlagen vor Ort warten und die Pflanzen für den Verkauf vorbereiten.

Doch das Ziel des in Berlin gegründeten Unternehmens ist ein anderes, größeres, globales: „Nachhaltiger Anbau von Lebensmitteln mit einer vollautomatischen Hardware in Hochleistungsfarmen der nächsten Generation für den urbanen Raum“, so wird es in einer Unternehmensmitteilung formuliert. Also soll es nicht bei den aktuell rund siebzig Produkten bleiben, die Infarm derzeit weltweit in zehn Ländern und seit Januar auch in Japan vertreibt.

Kalaitzoglous Team forscht am Standort Gartenfelderstraße in Berlin unter anderem an Tomaten, Chili und Pilzen. Denn die wachsende Weltbevölkerung und die Klimakrise drängen, Lebensmittelanbau neu zu denken. Unternehmen mit Forschungslaboren ebenso wie staatliche wissenschaftliche Institute arbeiten an Antworten auf die Fragen, wie Menschen ernährt werden können und wie gesundes Grün angesichts von Megacity-Wachstum und fehlenden Anbauflächen produziert werden kann. Beispielsweise hat das Fraunhofer-Institut für Arbeitswirtschaft und Organisation (IAO) in Stuttgart den Anteil der Treibhausgasemissionen in der Landwirtschaft und das Problem fehlender Fläche 2018 in einer Studie thematisiert. Demnach sind von den ackerfähigen Flächen weltweit bereits 33 Prozent durch Überpflügung, Überdüngung, Perstizide und Erosion gefährdet (s. Grafik auf Seite 22).

Das große Geschäft lockt

Ja, Vertical Farming spart Flächen und andere Ressourcen, aber auch das große Geschäft lockt, und im Fall eines Start-ups wie Infarm wollen Investoren Erfolge sehen. Der globale Obst- und Gemüsemarkt weist ein Volumen von drei Billionen US-Dollar auf. Das Marktforschungsunternehmen Global Market Insights prognostiziert dem Vertical Farming eine Wachstumsrate von rund 28 Prozent bis 2026. Ein Riesenpotenzial – das meinen auch Geldgeber. In einer dritten Finanzierungsrunde seit Gründung 2013 hat Infarm im Spätsommer 2020 rund 140 Millionen Euro eingesammelt, zu denen, die an die Idee glauben, gehört über Investor LGT Lightstone das Fürstenhaus von Liechtenstein. Insgesamt steckt laut Handelsblatt bereits rund eine viertel Milliarde Euro im Unternehmen.

Stängel performen knusprig

Es sind feine Träume aus Grün, die am Ende des Besuchs im Zukunftslabor zur Demonstration der Leistungsfähigkeit bereitstehen. Beim Probieren performen die Stängel knusprig, der Geschmack ist frisch-intensiv, und die gefiederten Blätter sind so feingliedrig, dass sie vor dem Servieren ohne Aufwand gezupft werden können. Dieser Bergkoriander ist optimiert, denn entwickelt wurde er von Infarm zusammen mit Tim Raue. Für einen Verarbeitungsprofi soll gesundes Grün nämlich auch möglichst wenig Arbeit machen.

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