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Interview mit Handelsexperte Dr. Kay Hafner

Der deutsche Lebensmittelhandel befindet sich in einer unbequemen Sandwichposition zwischen verändertem Kundenverhalten der Moderne und angriffslustigen Global Playern der Internetwelt. Deshalb muss er sein analoges Geschäftsmodell umkrempeln und in eine digital dominierte Zukunft führen, rät Handelsexperte Kay Hafner.

Kay Hafner
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Von Matthias Kersten | Fotos: Georg Lukas

Herr Hafner, wo steht der deutsche LEH beim Thema Digitalisierung?

Hafner: Das Verhalten des Lebensmittelhandels erinnert mich an das gallische Dorf der Asterix-Comics: Während draußen römische Legionen namens Digitalisierung die gesamte Welt umgraben und unterwerfen, scheint das Leben im Dorf einfach weiterzugehen wie bisher.

Konkret?

Hafner: Die Supermarktbetreiber tun so, als gehe sie das alles nichts an. Sie schrauben lieber an Einzellösungen, Prototypen und Testanlagen herum oder modernisieren ihre Filialen, als Geld in E-Commerce zu stecken. Andere wiederum zeigen nur kurzen Atem und drosseln schon nach wenigen Versuchen den Ausbau ihrer Lieferdienste.

Was bedeutet das unterm Strich?

Hafner: Es wird überwiegend am klassischen Geschäftsmodell festgehalten. Ich selbst bin aber überzeugt von der Notwendigkeit, Geld in die Modernisierung des Ge-schäftsmodells zu stecken, sozusagen als überlebenswichtige Investition in die Zukunft.

Welche Vertriebstypen haben gute Zukunftschancen?

Hafner: Künftig wird es drei große Vertriebstypen gibt: die Nische und den Fachhandel, den Discount und den Vollsortimenter. Alle drei Formate werden als Multichannel-Anbieter agieren müssen, damit sich der Kunde problemlos zwischen stationär und online hin und her bewegen kann.

Wie sieht es mit den anderen Formaten aus?

Hafner: Einige Vertriebstypen wird es in der klassischen Form nicht mehr geben. Großflächen, Kaufhäuser und Fachmärkte werden sich neue Geschäftsmodelle suchen müssen.

Nämlich welche?

Hafner: Sie brauchen künftig nur noch einen Showroom, wo sich der Kunde beraten und anschließend die Ware nach Hause liefern lässt. Und nebenbei bemerkt: Das Internet liefert heute schon wesentlich bessere Informationen über Produkte als die persönliche Beratung vor Ort.

Wohin geht die Reise beim LEH?

Hafner: Das Warenangebot wird sich künftig stärker in Erlebnis- und Versorgungssorti-ment kategorisieren lassen. Beim Erlebnissortiment (z.B. Frische) spielen Optik und Haptik eine weitaus größere Rolle als beim Versorgungssortiment (z.B. Wasch- Putz-, Reinigungsmittel). Wenn nun der Versorgungsteil durch Online-Vermarktung aus der Wertschöpfungskette herausfällt, dann könnte das klassische – sprich: analoge – Format in Schwierigkeiten kommen.

Und welche Entwicklung erwarten Sie beim Online-Geschäft?

Hafner: Ich gehe davon aus, dass der Online-Handel mit Lebensmitteln in Deutschland bis 2025 einen Marktanteil von 3 bis 5 Prozent erreicht – viel weniger übrigens, als Digitalisierungsexperten ursprünglich erwartet hatten.

Woran liegt das?

Hafner: „Click & Collect“ ist zu umständlich für den Kunden, das Liefergeschäft und die tausenden von Pick-up-Points und speziellen Briefkästen für die Abholung von Ware bescheren dem Handel momentan nur Verluste. Der LEH dürfte diese Vermarktungsform auf mittlere Sicht nicht mehr forcieren – und mittelfristig heißt: in ca. fünf Jahren. Hinzu kommt, dass kein anderes Volk beim Einkaufen von Lebensmitteln so knauserig ist wie die Deutschen. In der Heimat von Aldi und Lidl ist die Zahl derjenigen, die bereit sind, für mehr Service auch mehr Geld auszugeben, deutlich kleiner als anderswo.

Was wird aus der Kundenbindung?

Hafner: Kundenentscheidungen bei der Einkaufsstättenwahl werden sich künftig nicht mehr am geografisch günstigsten Standort festmachen; die Kunden entscheiden dann völlig flexibel und je nach Situation, wann und zu welchem Preis sie ein Produkt haben wollen. Und in welchem Zeitkorridor sie es sich liefern lassen wollen. Das lässt sich zeitlich auf eine halbe Stunde festlegen.

Wenn alle Welt online unterwegs ist – was wird aus den Innenstädten?

Hafner: Es wird sich vor allem ein großer Teil der Versorgungskäufe aus den städtischen Zentren herausverlagern. Die Innenstädte werden sich also komplett neu erfinden müssen: neue Lifestyle-Konzepte oder Gastronomie-Themen entwickeln, Marktplätze mit Erlebnis-Charakter und Showrooms mit Lounge-Charakter schaffen.

Wie gefährlich sind Amazon Fresh & Co.?

Hafner: Von den Internet-Dickschiffen geht echte Gefahr aus. Ich sehe dabei nicht nur Amazon Fresh, sondern auch die anderen Riesen: Google, Facebook, Apple und Microsoft. Dabei dreht es sich nicht nur um Lebensmittel. Sie werden sich überlegen, wie sie den bereits vorhandenen Zugang zu ihren Kunden auch in Richtung Bankleistungen, Logistik und Produktvermarktung nutzen.

Können Sie das quantifizieren?

Hafner: Ich bin absolut überzeugt davon, dass die erste Liga dieser Internet-Riesen in rund fünf Jahren ca. 5 Prozent des Food-Marktes abdecken wird. Und fünf Jahre später wird sich der Anteil verdoppelt haben. Selbst wenn am Anfang dieser Entwicklung eher die Non-Food-Sortimente des LEH im Vordergrund stehen – es wird sich immer mehr auch in die anspruchsvolleren Frische-Sortimente verschieben.

Konsequenz?

Hafner: Wenn der LEH die Bedrohung richtig und rechtzeitig versteht, dann wird er eine Hälfte des Kuchens für sich behalten; die andere Hälfte werden Amazon Fresh und Konsorten auf sich vereinigen, also reine Online-Player.

Was empfehlen Sie dem Handel?

Hafner: Wir wissen alle, wie die Kostenstrukturen des Handels aussehen – und wenn der LEH maßgebliche Marktanteile verliert, wird er massive Probleme bekommen. Also ist es gleichsam eine Überlebensstrategie für ihn, an der Online-Entwicklung teilzuhaben. Anders ausgedrückt: Der LEH wäre gut beraten, in den gegenwärtigen Zeiten, wo er noch gutes Geld verdient, sein Geschäftsmodell und seine Wertschöpfungskette von analog auf digital umzubauen. Er sollte sich von den Verlockungen des traditionellen Geschäftsmodells nicht immer wieder ablenken lassen.

Was ist zu tun?

Hafner: In den nächsten zwei bis drei Jahren sollte man das Geschäftsmodell umstellen. Die Kernpunkte: Lieferservice ohne Gebühren, Social Media statt klassischer Werbung, Erlebnis- ohne Versorgungssortiment, potenzialorientierter Vertrieb statt des üblichen Key Account-Managements, agile Führungsstruktur statt klassischer Hierarchie. Dabei muss der Handel aufpassen, dass er sich nicht in Detaillösungen verzettelt. Die Prozesse müssen wie bei den großen Online-Playern standardisiert und skaliert werden.

Will der Handel das wirklich?

Hafner: Es ist ziemlich egal, ob er das will oder nicht – er muss es einfach tun. Das heißt, er muss sich konzeptionell und strukturell auf die Zukunft vorbereiten – nicht in aller Hektik den Online-Schalter umlegen, sondern sukzessive daran arbeiten, zukunftsfähig zu werden.

Das heißt in der Praxis?

Hafner: Man muss sich einen Plan machen, wie ich den Abnehmer künftig erreichen kann. Denn Umfragen bestätigen, dass sich 80 Prozent der Kunden vorstellen können, sich im Internet über Lebensmittel zu informieren, dort zu kaufen und ihr bisheriges Kaufverhalten zu ändern.

Welcher Player ist da am weitesten?

Hafner: Der Marktführer in diesem komplizierten Segment heißt eindeutig Amazon Fresh – und der marschiert unverdrossen weiter und investiert hohe Summen. Die Verknüpfung von Fresh, Prime und Alexa sowie zahlreiche Partnerschaften mit starken Marken und Logistikern eröffnen dem US-Konzern vielfältige Synergien.

Kann der deutsche LEH da noch mithalten?

Hafner: Der Prozess der Umorientierung muss sich nicht von heute auf morgen realisieren. Ich kann als Einzelhändler vor Ort meine Kunden darauf vorbereiten, dass sie beim Versorgungssortiments nur noch Kleinstmengen in den Regalen vorfinden – quasi der Information halber – und dass sie sich die entsprechende Ware in zunehmendem Maße liefern lassen. Das schafft letztlich Platz für die Erlebnissortimente.

Wie würden Sie diese Strategie umschreiben?

Hafner: Ich nenne das lokale Digitalisierung, im Unterschied zur regionalen oder nationalen Digitalisierung. In der Praxis kann sich jeder Einzelhändler Zug um Zug in die Verwirklichung dieser Strategie einarbeiten – notfalls auch mit externer Unterstützung.

Muss der Handel auf absehbare Zeit also beide Varianten vorhalten – stationär und online?

Hafner: Ja, und das kostet natürlich Geld. Aber daran führt kein Weg vorbei.

Welche Voraussetzungen braucht es da?

Hafner: Absoluter Kundenfokus, absoluter Datenfokus, Geschwindigkeit, Mut beim Austesten neuer Vertriebswege – das wäre der richtige Ansatz, sich auf die Zukunft einzustellen. Bei uns muss eine Kultur des Probierens und Verwerfens entstehen, wie sie in den großen digitalen Unternehmen der USA schon längst existiert. Was zählt, ist Schnelligkeit und Agilität statt Perfektionismus im täglichen Handeln. Dazu braucht man ein anderes Denken, eine andere Unternehmenskultur und eine andere Organisation.

Muss sich der deutsche Handel um seine Zukunft sorgen?

Hafner: Unternehmen, die sich nicht mit den neuen Gegebenheiten auseinandersetzen, werden in Schwierigkeiten geraten. Andererseits hat der Handel hat immer wieder bewiesen, dass er sich neuen Herausforderungen stellen kann und offen für Veränderung ist. Trotzdem glaube ich, dass in Zukunft ca. ein Drittel des gesamten Handels nicht mehr am Markt ist.

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