Auf neue Herausforderungen reagieren – darin ist Mathias Kollmann bereits seit 2019 geübt. Als Corona die Lieferketten auch der Bohlsener Mühle durcheinanderbrachte, war die Reaktion des Geschäftsführers so einfach wie unkonventionell. „Wir mussten uns damit beschäftigen,
wie die Ware zum Kunden kommt. Wir haben die Verpackungseinheiten geändert und auf Abholung umgestellt.“
Und dann berichtet Kollmann, wie sich die Kunden das Mehl mit Schaufeln in Tüten gefüllt haben. „Was mich an Krisen begeistert, ist: Die Menschen werden innovativ“, sagt der 53-Jährige, der im müllerweißen Sommer-T-Shirt über seine Arbeit spricht. Allerdings merkt er auch an: „Ich mache meinen Job seit 30 Jahren, aber so etwas wie aktuell habe ich noch nie erlebt. Sie können nicht mittel- oder langfristig planen! Es ist extremst anstrengend.“
"Was mich an Krisen begeistert: Die Menschen werden innovativ. Aber es ist extremst anstrengend."
Mathias Kollmann, Geschäftsführer Bohlsener Mühle
Sieben Monate später, im Februar 2023 und nach einjährigem Ukrainekrieg, hat sich das Leben des Bio-Mühlen-Unternehmers nicht
entspannt, und auch konventionelle Mühlen kämpfen an allen Fronten gegen Probleme. Woher die Rohstoffe nehmen? Wie die Energiepreise stemmen? Auf welche Weise die Technik zu mehr Effizienz und weniger Kosten umrüsten? Welche Verpackungen haben
eine akzeptable Ökobilanz und werden vom Konsumenten gerne gekauft?
Energie aus der Mühle für das Dorf Mathias Kollmann ist das, was man ein Bio-Urgestein nennen kann. Er geht mit Landwirten in Berlin zum „Wir haben es satt“-Protest auf die Straße und arbeitet in Gremien und Verbänden für nachhaltige Landwirtschaft. Bis hin zum eigenen Kochbuch betreibt er Bewusstseinsbildung, Stichwort Klimakulinarik: „Was und wie wir essen verändert das Klima“, heißt es im Vorwort, CO₂-Fußabdruck und Klimawirksamkeit sind für jedes Rezept berechnet.
Und in Gerdau in der Lüneburger, dem Standort der Bohlsener Mühle, hat das Wirken des Geschäftsführers mit seinem Team Folgen für den Ort: Knapp 75 Haushalte werden über das Nahwärmenetz mit Wärme versorgt und haben so eine moderne und effiziente Heizanlage. Die gemeinsame Heizzentrale wird mit Dinkelspelzenpellets der Bohlsener Mühle betrieben. Dass die Mühle intensiv daran arbeitet, auch Lieferwege zu verkürzen, muss man fast nicht mehr erwähnen.
2020 wurden bereits 14.449 Tonnen und damit rund 46 Prozent der eingekauften Rohstoffe aus einem Umkreis von 200 Kilometern bezogen. Seit 2016 bauen drei Landwirte in Norddeutschland sogar Bioland-Quinoa für die Bohlsener Mühle an.
Regional und als Agrobusiness
Die Mühlenlandschaft in Deutschland ist vielfältig, auch was die Unternehmensgrößen betrifft. Im Jahr 1950 gab es noch fast 19.000 Getreidemühlen, 2020 waren es laut Verband Deutscher Mühlen 550, davon vermahlen 186 mehr als 1.000 Tonnen im Jahr. Ölmühlen werden gesondert erfasst. Eine Überlebensstrategie gegen das Mühlensterben war in den vergangenen Jahrzehnten Spezialisierung – eventuell in Richtung Bio – und Regionalisierung.
Kleine Betriebe haben sich eher die Regionalität und Nachhaltigkeit auf die Fahnen geschrieben, aber das Thema CO₂-Reduzierung ist auch bei den Großen angekommen. Die Straubinger Ölmühle beispielsweise gehört zur Archer Daniels Midland Company (ADM), die, gesteuert von Chicago aus, weltweit Getreide und Ölsaaten verarbeitet. ADM ist einer der fünf größten Agrarbusiness-Konzerne der Welt. Am Standort Straubing am Donauhafen hat sich das ADM-Werk auf die Gewinnung von Proteinen aus nicht gentechnisch veränderten Sojabohnen aus dem Donauraum spezialisiert. Im September 2021 gab ADM bekannt, für die USA-Mühlen als Erster der Branche den Status der Nettokohlenstoffneutralität erreicht zu haben.
Der Riesenplayer erreichte dieses Ergebnis – nach eigenen Angaben früher als geplant – durch eine Kombination aus Energieeffizienz, dem Kauf von Zertifikaten für erneuerbare Energien und der Bindung von Kohlendioxid in der kommerziellen Kohlenstoffabscheidungs- und -speicherungsanlage des Unternehmens. Auch in der Straubinger Mühle wird Rückgewinnung von Wärmeenergie und biologische Abluftreinigung betrieben. Biogene Rohstoffe, nachhaltige Produktion, kein Abfall: Ölmühlen können also zu Paradebeispielen für biobasierte Wirtschaft werden.