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Von Moralisten und Steinzeitmenschen

Essen in der wohlhabenden Industriegesellschaft ist nicht mehr das, was es mal war: ein Mittel, um satt zu werden. „Political correctness“ und Gesundheit sind die Treiber einer selbstbestimmten Ernährung. Manches ist Modeerscheinung, anderes wird zum Mainstream.

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Von Matthias Kersten

Wer heute das Wort „Sättigungsbeilage“ (vulgo: Kartoffeln auf dem Teller) in den Mund nimmt, outet sich als Ignorant und Ewiggestriger. Denn die Funktion von Lebensmitteln hat in den vergangenen Jahrzehnten einen grundlegenden Wandlungsprozess durchlaufen, und zwar von der Grundversorgung über Sortimentsund Produktvielfalt bis zu Convenience und allumfassender Verfügbarkeit. Heute sind diese Werte nicht mehr bestimmend für eine zukunftsorientierte Lebensweise. Sie sind eine Selbstverständlichkeit. Die Ernährungs- und Verzehrgewohnheiten orientieren sich mehr und mehr an individuellen Maßstäben wie gesellschaftspolitischer Verantwortung, körperlicher Verfassung oder emotionaler Befindlichkeit.

Der aufmerksame Gutmensch

Dadurch werden sie zum persönlichen Fitnessprogramm (Gesundheit), politischen Statement (Tierwohl) oder romantischen Lebensgefühl („Back to the Roots“). Der in dieser Hinsicht aufgeklärte Verbraucher mutiert vom gedankenlosen Konsumenten zum aufmerksamen Gutmenschen: gut zum eigenen Körper, gut zur Umwelt.
Persönliches Fitnessprogramm. In seiner neuesten Studie spricht das Zukunftsinstitut vom „Megatrend Gesundheit“, der in sämtliche Lebensbereiche vorgedrungen und mittlerweile fest im Bewusstsein der Menschen verankert sei. Das ist darauf zurückzuführen, dass die Menschen eine immer höhere Lebenserwartung haben und bis ins hohe Alter aktiv am Geschehen teilnehmen, sprich länger gesund bleiben wollen. Daraus entwickelt hat sich die Spezies des „Gesundheitsperformers“, der schon in frühen Jahren beginnt, großen Wert auf Bewegung und gesunde Ernährung zu legen. Damit einher geht der (hin und wieder verbissene) Ehrgeiz, mithilfe von Fit-bit-Armbändern die Verbrennung jeder einzelnen Kalorie zu erfassen. Dieser Trend zur „gesundheitlichen Selbstoptimierung“ in der Bevölkerung nimmt langsam, aber stetig zu, wie die Ernährungssoziologin Jana Rückert-John konstatiert. Allerdings beobachte sie „diese ganzen Self-Tracking-Geschichten mit Sorge“, fügt sie hinzu. Denn durch die „zunehmende Reflektivität“ ausschließlich auf das Funktionieren des Körpers würden Genuss und Lust am Essen in den Hintergrund treten.

Ernährung als Therapie

Gerade das darf und wird laut Nestlé- Deutschland-Chefin Béatrice Guillaume- Grabisch nicht passieren. Ernährung bekomme zwar zunehmend einen funktionalen Charakter, sagt sie, dürfe aber – und darin liegt die innovative Herausforderung der Lebensmittelindustrie – Genuss und Geschmack nicht vernachlässigen. Für ihr Credo hat Guillaume-Grabisch eine griffige Formel parat: „Die Pille ist für Erkrankte, um gesund zu werden. Ernährung dagegen – zumindest in den wohlhabenden Industriestaaten – ist für Gesunde, die es bleiben wollen.“ Schon heute würden 91,2 Prozent der Bevölkerung Gesundheit für das Wichtigste halten.
Politisches Statement. „Verändern Sie mit uns die Welt!“, lautet der Imperativ des Vegetarierbundes Deutschland (VEBU), dessen Botschaften und Unterstützer immer stärker Richtung „vegan“ tendieren. So berichtete der VEBU in den höchsten Tönen („Bratapfel statt Bratwurst“) von zehn veganen Weihnachtsmärkten, die sich im vergangenen Dezember bundesweit etabliert hatten – von Aschaffenburg über Dresden bis Berlin. Auf dem „Green Market“ der Hauptstadt hätten beispielsweise mehr als 50 Händler ihre rein pflanzlichen Produkte angeboten: Lebensmittel und Gebäck, Seifen und Kosmetik, Kleidung und Accessoires.
Mag sich auch die vegane/vegetarische Ernährung zu einem Trend mit veritablen (zweistelligen) Wachstumsraten gemausert haben – von einem „Mainstream“, wie der Lobbyverband VEBU schwärmerisch kolportiert, ist man mangels Masse derzeit weit entfernt. Nur vier Prozent der Bevölkerung zählen zu „echten“ Vegetariern und Veganern, wie das IFH Köln errechnet hat. Und die Wiener Trendforscherin Hanni Rützler sieht in der komplett fleischlosen Ernährungsalternative sogar ein Szenario, „das in Zukunft nicht mehrheitsfähig sein wird“. Sie nennt diese Produkte deshalb „Übergangslebensmittel“.
Aber: Kaum ein Hersteller von Fleischund Wurstwaren, der nicht auf diesen „Stream“ setzt; kaum ein Supermarkt, der nicht separate Flächen für diese spezielle Warengruppe zur Verfügung stellt. Die derzeit steigende Nachfrage nach veganen Lebensmitteln speist sich eben aus der Tatsache, dass die veganen „Weltveränderer“ sich nicht nur als Retter der Tierwelt, sondern als Bewegung mit ganzheitlicher Philosophie sehen. Der Gedanke des Tierwohls steht bei ihnen zwar ebenfalls im Vordergrund, doch grundsätzlich fühlen sie sich einer nachhaltigen Produktionsund Lebensweise verpflichtet, das heißt der ökologischen Landwirtschaft mit stark regionalem Bezug.

„We are social“

Komplett international aufgestellt ist indessen ein junges Berliner Start-up namens „Conflictfood“, für dessen Gründer Essen ein politischer Akt ist. Die fair gehandelten Lebensmittelrohstoffe und -produkte stammen ausschließlich aus Krisenregionen und werden in Deutschland verarbeitet beziehungsweise online vermarktet. „We are social“, lautet ihre Mission, deren Ziel es ist, mit den Menschen vor Ort eine langfristige wirtschaftliche Zusammenarbeit aufzubauen und ihnen eine friedliche Perspektive zu ermöglichen. Das erste marktfähige Produkt ist Safran aus Afghanistan; hinzu kommt in Kürze Freekeh, ein grün geernteter und auf offenem Feuer gerösteter Weizen.
Romantisches Lebensgefühl. „Zurück zur Natur“, hat schon der Philosoph Jean- Jacques Rousseau im 18. Jahrhundert als Maxime des menschlichen Lebens gefordert. Begründung dafür war seine Überzeugung, dass jeglicher Fortschritt nur eine zunehmende Entfremdung vom ursprünglichen Naturzustand bewirkt habe. Das war massive Zivilisationskritik weit vor ihrer Zeit. Und die erlebt heute – im Zeitalter der globalen und digitalen Vernetzung – eine Renaissance, die auch vor der Ernährung nicht haltmacht.

Zurück in die Steinzeit

„Paleo“ heißt das Zauberwort, dessen Verfechter eine Zeitreise zurück in die Altsteinzeit propagieren. Die „Steinzeit- Ernährung“ orientiert sich stark an der ursprünglichen Nahrungsaufnahme der Jäger und Sammler, imitiert diese mit den heute verfügbaren Lebensmitteln und fokussiert auf hohe Lebensmittelqualität und Nachhaltigkeit. Glaubt man den eingefleischten Paleo-Fans, dann sorgt diese Form der Ernährung für die Vermeidung von Zivilisationskrankheiten wie hoher Blutdruck, Diabetes, Fettleibigkeit, Krebs und Herz-Kreislauf-Schwäche.
Zur selben Ernährungsfamilie wie Paleo gehört „low carb“, also der Trend, die Zuführung von Kohlenhydraten deutlich runterzufahren. Pasta, Weißbrot, Kartoffeln und Reis, aber auch Weizenmehl, Obstsorten mit hohem Fruktosegehalt und Zucker kommen nur noch in abgespeckter Form auf den täglichen Speiseplan. Das mag als alter Wein in neuen Schläuchen empfunden werden, ist aber letztlich Ausdruck eines profunden Bewusstseinswandels bei den Verbrauchern.

Bevormundung nicht erwünscht

Ob und inwieweit diese Trends zu einem Massenphänomen werden, hängt von der individuellen Entscheidung der Verbraucher ab. Dabei spielen nicht allein Überlegungen zur „political correctness“ und zur persönlichen Gesundheit eine zentrale Rolle – es geht auch und im eigentlichen Sinne des Wortes um Geschmacksfragen.
In diesem Prozess hat sich die Politik zum Ziel gesetzt, Verbraucher in die „richtige“ Richtung zu führen, kritisiert der Verein „Die Lebensmittelwirtschaft“: Ungünstiges Essverhalten in der Überflussgesellschaft soll durch neue Produkte und Verhaltensregeln verbessert werden. Dem steht entgegen, dass die meisten Menschen in Fragen der Ernährung nicht bevormundet werden wollen.
Der Verein hat ermittelt, dass 77 Prozent der Verbraucher sich nicht vom Staat vorschreiben lassen wollen, was gesund ist. 80 Prozent legen Wert darauf, dass sie ihre Entscheidung über den Lebensmitteleinkauf selbstbestimmt treffen.

Gesundheit und Wohlbefinden

Anlässlich der „Berliner Mittwochsgesellschaft“ der Metro Group hat Béatrice Guillaume-Grabisch folgende Thesen zum Thema „Bewusster essen – besser leben“ vorgestellt:

  • Ernährung wird sich den gesellschaftlichen Veränderungen anpassen: Sie wird funktionaler, wissenschaftsbasierter und wesentlich personalisierter. Béatrice Guillaume- Grabisch Vorstandsvorsitzende Nestlé Deutschland
  • Die Gesundheitssysteme werden sich (schon aus Kostengründen) umstellen: Die gezielte Vorsorge zur Vermeidung von Krankheiten durch Ernährung und Bewegung rückt in den Vordergrund.
  • Die gegenwärtige, eindimensionale Verzichtsdebatte (weniger Zucker, weniger Salz, weniger Fett) wird für den Verbraucher immer unsinniger und unattraktiver. Sie wird abgelöst durch ein ganzheitliches Konsummodell: werteorientiert und personalisiert.
  • Handel und Industrie werden einen Rollenwandel durchlaufen (müssen): Vom Versorger zum multifunktionalen Dienstleister

 

Produkte

Craft Beer
Das handwerklich gebraute Bier stammt aus unabhängigen Brauereien. Die Brauer verfolgen höchste Qualitätsansprüche und zeichnen sich durch Experimentierfreude aus. Traditionelle Herstellungsmethoden, natürliche Rohstoffe von hoher Güte und der Verzicht auf Zusatzstoffe haben höchste Priorität. Dennoch ist die Craft- Beer-Welt eine kreative Spielwiese.

Pseudogetreide
Dazu gehören Quinoa, Amaranth und Buchweizen, die sich ähnlich wie echtes Getreide verarbeiten lassen. Die Körner versorgen den Körper mit wertvollen Proteinen und Mineralstoffen. Sie sind glutenfrei und können bei einer Unverträglichkeit aushelfen. Das trifft auch für Chia-Samen zu – ein gesunder Energielieferant und ein Powerkorn gegen Hungergefühl.

Asiatische Nudeln
Sie haben eine andere Konsistenz als die gängigen Hartweizennudeln und nehmen Aromen intensiver auf. In Deutschland gibt es inzwischen die ersten Ramen-Bars, die die asiatischen Nudeln in großen Suppenschüsseln servieren. Viel zahlreicher vertreten sind die vietnamesischen Streetfood-Lokale, wo man unter anderem die Pho-Bo-Suppe probieren kann.

Misfits
Das Motto „Esst die ganze Ernte!“ rückt unförmiges Gemüse und Obst in den ökologischen Blickpunkt. Zu den „Misfits“ (Außenseitern) zählen Obst und Gemüse, die nicht der Norm entsprechen und aufgrund der Form nicht optimal transportiert werden können. Deshalb werden krumme Gurken, übergroße Kartoffeln oder mehrwurzelige Möhren häufig als Ausschussware entsorgt.

Food Pairing
Dahinter verbirgt sich eine Methode zur idealen Kombination von Lebensmitteln auf Basis ihrer Aromen. Sie soll Köchen, Rezeptentwicklern und anderen passionierten Foodies helfen, gelungene Aromenverbindungen zu kreieren. Hintergrund des Food Pairing sind wissenschaftliche Erkenntnisse aus der Aromenlehre.
(Quelle: www.essen-und-trinken.de)

Craft Beer, Bier, Sortiment, Rundschau, Medialog
Craft Beer Foto: Fotolia (okorokovanatalya)
Quinoa, Amaranth, Buchweizen, Glutenfrei, Chia-Samen, Getreide, Sortiment, Rundschau, Medialog
Pseudogetreide Foto: Fotolia (Elena Schweitzer)
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Pseudogetreide Foto: Fotolia (Elena Schweitzer)
Asiatishe Nudeln, Ramen, Nudeln, Glasnudeln, Pho-Bo-Suppe, Sortiment, Rundschau, Medialog
Asiatische Nudeln Foto: (daizuoxin)
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Asiatische Nudeln Foto: (daizuoxin)
Misfits, Ausenseiter, Obst, Gemüse, Karotten, Superfood, Gesund essen, Sortiment, Rundschau, Medialog
Misfits Foto: Thinkstock (moisseyev)
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Misfits Foto: Thinkstock (moisseyev)
Food Pairing, Sortiment, Medialog, Rundschau
Food Pairing Foto: Fotolia (EvanTravels)
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Food Pairing Foto: Fotolia (EvanTravels)
Superfood, Sortiment, Medialog, Rundschau
Superfood: Die möglichst naturbelassenen Lebensmittel sind reich an Nährstoffen. Foto: Fotolia (scottchan)
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Superfood: Die möglichst naturbelassenen Lebensmittel sind reich an Nährstoffen. Foto: Fotolia (scottchan)
Beatrice Guillaume-Grabisch, Sortiment, Medialog, Rundschau
Béatrice Guillaume- Grabisch Vorstandsvorsitzende Nestlé Deutschland Foto: Unternehmen
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Béatrice Guillaume- Grabisch Vorstandsvorsitzende Nestlé Deutschland Foto: Unternehmen

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