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Store-Check spezial Rewe Hamburg Hoheluftchaussee: Unter den Augen der KI

Pick&Go - ist kassenloses Einkaufen die Zukunft? Den nach eigenen Angaben größten Computer-Vision-gestützten Supermarkt Europas hat Rewe in Hamburg eröffnet. Die RUNDSCHAU war vor Ort und hat genauer hingeschaut.

Spektakulär ist in erster Linie die Computer- Vison-Technik im neuen Rewe-Markt in der Hoheluftchaussee in Hamburg-Eimsbüttel.
Von Martina Kausch | Fotos: Jörg Brockstedt

So easy kann es sein, das Einkaufen 2024. Einen Einkaufswagen organisieren? Muss nicht sein. Einen Einkaufskorb über den Arm hängen? Never. An der Kasse in der Schlange stehen, alle Einkäufe vom Sechserpack der 1,5-Liter-Limo bis zum Minipäckchen Traubenzucker auf das Kassenband hieven und aufpassen, dass man nichts vom nächsten Kunden mitbezahlt und beim Einpacken nichts vergisst? Nie wieder. Dazwischen den Tinnitus mit dem Kassenpiepsen füttern? Auch das fällt weg, wenn man sich in einem der digitalen Märkte versorgt, die acht Jahre nach Amazon go mit zunehmender Frequenz in Deutschland eröffnen. Den Markt betreten, alle Einkäufe in den eigenen Shopper packen und tschüss. „Hin und weg“ beschreibt das Rewe-Marketing das Einkaufserlebnis, das seit Juli dieses Jahres in der Hoheluftchaussee in Hamburg-Eimsbüttel eine neue digitale 1.200-Quadratmeter-Heimat hat. Und sie soll nicht die letzte in der Elbmetropole sein: Bereits im Frühherbst wird in der Altonaer Straße ein 900-Quadratmeter-Markt als Rewe Pick&Go eröffnet.


"Rewe hat keinen Zugang zu den Bilddaten, in welcher Form auch immer."

Joschua Zimmermann, Marktleiter, Rewe Pick&Go


Technik aus Tel Aviv

Möglich macht die neue Shopperfreude das Engagement der Rewe Group an Trigo Vision. Das 2018 gegründete Start-up mit Sitz in Tel Aviv-Jaffa wurde über mehrere Investitionsrunden bedacht – 2021 mit rund acht Millionen Euro. Die vergleichsweise geringe Summe zeugt von Vorsicht, denn einerseits sind die deutschen Konsumenten traditionell nicht so innovationsinteressiert wie französische oder gar asiatische. Andererseits aber nehmen seit Anfang der 20er-Jahre alle Handelsunternehmen Geld in die Hand, um es Amazon nachzutun.

Der Versandriese hatte als Amazon go in Seattle den ersten kassenlosen Supermarkt eröffnet, 2016 für Mitarbeiter und 2018 für alle Kunden. Prompt investierte die Schwarz Gruppe in ihre „Shop Box“, die seit März 2021 auf dem Bildungscampus Heilbronn zunächst nur für Studierende und Mitarbeitende nutzbar war. Netto als Edeka-Tochter testet seit 2021 als erster Discounter in Deutschland das kassenlose Einkaufen und arbeitet ebenfalls mit Trigo. Ein neuer Aldi-Markt in der Innenstadt von Utrecht kommt seit Anfang 2022 ganz ohne Kasse aus. Übrigens beschreiben die Begriffe „Grab & Go“, „Walk-in-Walk-out“ oder „Frictionless Shopping“ den gleichen Vorgang.

KI lernt auch im Markt dazu

Welche Technik steht hinter den Märkten, die kassenloses Einkaufen anbieten? Der Name Trigo Vision trägt das Prinzip im Namen.  Computer Vision bezeichnet ein Forschungsfeld der Künstlichen Intelligenz (KI). Computer Vision verarbeitet mehrere Formen visueller Eingaben, darunter Bilder und Videos aus verschiedenen Quellen wie Kameras, Bewegungsmeldern, aber auch Wärme- und Gewichtssensoren oder Radar. In den Pick&Go-Märkten kommen also Deckenkameras und Bewegungssensoren zum Einsatz, die den Kunden im Laden orten und die Artikel erkennen. Dank Gewichtssensoren „merken“ smarte Regale zudem, wie viele Produkte entnommen oder wieder zurückgestellt werden. Eine Software analysiert die Daten und ordnet dem jeweiligen Kunden den richtigen Warenkorb zu. Computer-Vision-Systeme sind selbstlernende Systeme. 

Erwünschte Datenkrake

Bei der Komplexität der Technik ist vorstellbar, dass Computer Vision große Datenmengen benötigt, denn die Daten werden wiederholt analysiert, bis Unterschiede festgestellt und letztendlich Bilder erkannt werden können. „Soll ein Computer beispielsweise darauf trainiert werden, Autoreifen zu erkennen, muss er mit enormen Mengen an Reifenbildern und Elementen mit Reifenbezug gefüttert werden, um Unterschiede zu lernen und einen Reifen erkennen zu können, besonders einen ohne Mängel“, wird auf der IBM-Homepage das Prinzip erklärt.

Für den LEH hat die Computer-Vison-Technik spezielle Herausforderungen. Voraussetzung dafür, dass wirklich jeder Kunde und der Einkauf jedes Kunden registriert wird, ist die Panoptik im Markt: Alles, aber auch alles muss gefilmt und ausgewertet werden. Nicht ein halber Schritt des Kunden – und der Mitarbeitenden – bleibt ungetrackt. Und: Die enormen Datenmengen müssen zügig verarbeitet werden – schließlich zahlt der Kunde sofort und möchte den Kassenbon zeitnah erhalten. Und Schlange stehen will er überhaupt nicht – auch nicht am Markteingang. Je mehr Kunden sich im Markt befinden, desto schwieriger wird die Erhebung der Daten – und desto höher die Wahrscheinlichkeit, dass doch etwas falsch abgerechnet wird.

Technik schlägt Atmosphäre

Logisch ist also bei einer Totalerfassung, dass der Markt sehr geradlinig und kameratauglich eingerichtet sein muss. Und genau das ist der Markt in der Hamburger Hoheluftchaussee. Lange Gänge, klare Strukturen, wenig tote Winkel und jede Menge Übersicht prägen hier das Bild – und das ist optisch kein besonderes Vergnügen. Technik schlägt Atmosphäre. Allerdings: Mit 20.000 Artikeln bietet der Markt ein ganz typisches Rewe-Sortiment an, einschließlich Sushi-Bar und Pfandautomat. Abstriche an der Auswahl gibt es also kaum. Und: Selbst Produkte von der Frischetheke und aus dem Bereich Obst und Gemüse sind für das System erkennbar, vorausgesetzt, der Kunde steht an auf dem Boden vorgeschriebenen Plätzen. Es gibt also keinen Grund mehr, nicht auch loses Obst, Gemüse und Thekenware im Pick&Go zu kaufen.

Biometrisch oder nicht?

Umstritten ist, wie wiedererkennbar die Kunden aufgrund der gesammelten Daten sind. „Die Daten aus hunderten Kameras und Sensoren in den Regalböden verarbeitet das System selbstständig. Rewe hat keinen Zugang zu den Bilddaten, in welcher Form auch immer“, sagt Marktleiter Joschua Zimmermann. In seltenen Fällen von Störungen des Systems würden diese von Rewe und Trigo schnell behoben. „Grundsätzlich befinden sich alle Pick&Go-Märkte noch im Testbetrieb – das bedeutet, Technologie und Prozesse werden kontinuierlich im Echtzeitbetrieb optimiert und weiterentwickelt“.

In den Pick&Go-Datenschutzbestimmungen beantwortet Rewe auf der Homepage die Frage „Welche deiner Daten verarbeiten wir?“ mit der Formulierung: „Wir verarbeiten deine personenbezogenen Daten“, und zwar „Videoaufzeichnung im Markt als schematische Darstellung deines Knochenbaus, in Ausnahmefällen Farbe deiner Kleidung oder auffällige Accessoires inklusive Zeitstempel und deines Einkaufswegs durch den Markt“. Aus der Rewe-Presseabteilung heißt es, das System erfasse den Einkaufsvorgang der Nutzer und deren schematische Darstellung, „biometrische Daten werden nicht gespeichert“.

Das Portal Netzpolitik.org hat dagegen nach eigenen Angaben den Biometrie-Experten Jan Krissler um eine Einschätzung gebeten. Er stellte daraufhin gegenüber Netzpolitik.org fest, dass es sich bei dem System im Rewe definitiv um ein biometrisches System handele: „Körpermerkmale erfassen ist der Inbegriff von Biometrie – und das passiert hier.“ Dabei sei es unerheblich, ob daraus, wie von Trigo behauptet, ein 3-D-Modell errechnet würde oder nicht. Es handele sich um biometrische Daten, die in diesem Fall offenbar pseudonymisiert seien, zitiert ihn das Portal.


INTERVIEW

Prof. Dr. Stephan Rüschen, Duale Hochschule Baden-Württemberg Heilbronn

Was zeichnet aktuell die neuesten Pick&Go-Techniken aus?
Kunden müssen sich in den neuesten Märkten nicht unbedingt registrieren. Jeder Kunde, der den Laden betritt, wird als „Strichmännchen“ erfasst und im Laden getrackt. Dabei wird der Kunde nicht gefilmt, sondern seine Bewegungen werden erfasst. 

Auch wenn das Gesicht des Kunden nicht gescannt wird, ist eine Identifizierung aus der Kombination der hinterlegten Daten der App bzw. der Bezahlsysteme doch möglich?
Das ist aber ähnlich wie bei einem Kundenkartenprogramm. Dort können Einkäufe auch eindeutig den Personen zugeordnet werden.

Die Pick&Go-Daten werden außerhalb der EU gespeichert – wie schätzen Sie diese Tatsache ein?
Persönlich halte ich dies für unkritisch, da aus meiner Sicht keine sensiblen Daten gespeichert werden. Da Kunden jedoch eine andere Auffassung haben könnten, wäre eine Speicherung der Daten in Deutschland hilfreich. Damit könnte das Vertrauen der Kunden in solche Systeme verbessert werden.


MARKTDATEN

Rewe Pick&Go Hamburg, Hoheluftchaussee

Adresse: Hoheluftchaussee 23–25, 20253 Hamburg 
Öffnungszeiten: Montag bisFreitag 7 bis 24 Uhr, Samstag 7 bis 23.30 Uhr
Eröffnung: 3. Juli 2024
Verkaufsfläche: 1.200 m²
Zahl der Produkte: rund 20.000
Länge der Frischetheke: 12 Meter 
Zahl der Mitarbeitenden: 42
Besonderheit: Pick&Go Testmarkt, größter Computer-Vision-gestützter Supermarkt Europas


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