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ForscherAuftritt Martin Fassnacht: "Das ist eine Riesenchance"

Kommt die Geiz-ist-geil-Mentalität zurück? Welche Rolle spielt Nachhaltigkeit künftig? Und wie können sich aktuell Handelsunternehmen gegen Discounter positionieren? Mit Hilfen für den schwierigen Alltag, sagt Martin Fassnacht.

Martin Fassnacht, Ökonom an der WHU –Otto Beisheim School of Management. Foto: RUNDSCHAU/privat
Von Martina Kausch | Fotos: RUNDSCHAU/privat

Das Thema Nachhaltigkeit war zuletzt in aller Munde. Bleibt das Thema angesichts von Inflation und Gaskrise für den Verbraucher wichtig?
Nachhaltigkeit hat typischerweise mit höheren Kosten für Unternehmen zu tun. Zurzeit sind die Konsumenten sehr verunsichert. Sie sind im täglichen Leben mit höheren Kosten konfrontiert, auch im Lebensmittelhandel steigen die Preise. Der niedrige Preis wird stärker im Fokus stehen und das wird sich so schnell nicht ändern.

Das bedeutet, nur billig zählt? Ein Zurück zur Geiz-ist-geil-Mentalität? Hat der Verbraucher kein Bedürfnis, etwas „für die Erde“ zu tun, also sowohl auf den Preis als auch auf die Nachhaltigkeit zu achten?
Zugespitzt formuliert: Nein. Geiz ist geil kommt zurück, davon bin ich überzeugt. Das spielt niedrig- und mittelpreisig positionierten Marken sowohl auf Industrie- als auch auf Handelsseite in die Hände. Man muss aber auch sehen, dass in den vergangenen Jahren für Tierwohl und Nachhaltigkeit einiges getan wurde. Zukünftig wird hier aber nicht der Fokus liegen, und die Zahl der Projekte zu 
Sustainability-Themen wird zurückgehen. 

Lidl hat jetzt die Rettertüte entwickelt – bis zu fünf Kilogramm nicht mehr blitzblankes Obst und Gemüse gibt es für drei Euro. Ist das die Fortführung des Secondhandgedankens im LEH? 
Ja. Ich denke, das hat Potenzial. Der soziale Makel des Begriffes Vintage geht verloren. Ich kann mir beispielsweise vorstellen, dass man Produkte nahe am Mindesthaltbarkeitsdatum günstiger bepreist und prominenter auslobt. Leistungsbezogene Produktdifferenzierung ‒ ich bin überzeugt, die werden wir künftig häufiger sehen. 

Von all diesen Strategien zur Krisenbewältigung hören wir ja aktuell sehr wenig.
Das finde ich auch erstaunlich. Ein Gedanke ist mir wichtig: Die Krise wird anhalten, ich gehe davon aus, dass die kommenden fünf Jahre hart werden und eine Rezession kommen wird. Aber meiner Meinung nach sollten Unternehmen proaktiv kommunikativ damit umgehen. Die zunehmend schwierige Lage wird von Unternehmen viel zu zurückhaltend kommuniziert. Ich kann die Unternehmen verstehen – aber die Krise beschäftigt die Menschen ja sowieso! Warum adressiert man das Thema dann nicht offensiver? Damit wäre man tatsächlich im Leben der Menschen. 

Stattdessen betonen Handelsunternehmen, dass sie auch günstig sein können …
Was Edeka macht – dass man jetzt in der Krise behauptet, man sei fast ein Discounter –, halte ich für völlig falsch. Damit macht man sich mittel- und langfristig das Konzept kaputt. Wenn man sich als Vollsortimenter plötzlich in Richtung Discountware platziert – schickt man dann die Verbraucher nicht eigentlich zum Discounter? Denn wenn ein Vollsortimenter so deutlich mit dem Preis argumentiert, sage ich mir als Konsument, ich gehe direkt zu Lidl, Aldi und Co., da ist die preisgünstige Auswahl noch größer! Das weiß der Konsument doch! In den USA sehen wir, dass auch wohlhabende Konsumenten verstärkt zu Walmart gehen.

Welche Strategie empfehlen Sie den Handelsunternehmen, um sich stärker vom Discounterprinzip zu distanzieren?
Die Handelsunternehmen müssen sich mehr in die Verbraucher hineinversetzen und überlegen: Wie kann ich ihnen helfen? Chancen für Edeka und Rewe wären Kooperationen, beispielsweise eine Zusammenarbeit mit Energie-Supplyern oder Mobility-Anbietern. Die Botschaft müsste sein: Verbraucher, ich unterstütze dich in schweren Zeiten, ich helfe beim Kostensparen im täglichen Leben. Das ist eine Riesenchance, neben den eigenen Handelsmarken, für die Supermärkte!

 


Martin Fassnacht 

ist Inhaber des Strategie- und Marketing-Lehrstuhls der WHU. Er wechselt sich hier mit David Bosshart, Stephan Grünewald und Florian Klaus ab. www.whu.edu


 

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