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Interview mit bevh-Hauptgeschäftsführer Christoph Wenk-Fischer

Christoph Wenk-Fischer, Hauptgeschäftsführer des Bundesverbands E-Commerce und Versandhandel (bevh), über den digitalen Lebensmittelkauf, Grundversorgung aus dem Web und Fachkräftemangel im Onlinehandel.

Christoph Wenk-Fischer, bve-Geschäftsführer
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Von Matthias Kersten | Fotos: Santiago Engelhardt

Herr Wenk-Fischer, welche Umsatzbedeutung hat der Onlinekauf von Lebensmitteln?

Wenk-Fischer: Im Jahr 2017 wurde die Latte von einer Milliarde Euro gerissen. Das mag man im Vergleich zu den gesamten LEH-Umsätzen als Kleinkram bezeichnen, aber entscheidend ist die Wachstumsrate, und die lag bei rund 20 Prozent.

Wie das?

Wenk-Fischer: Das liegt unter anderem am Markteintritt von Amazon Fresh im vorigen Jahr. Der ist einerseits gefürchtet worden, bedeutet aber andererseits einen Ansporn. Amazon hat den FMCG-Markt zwar nicht erobert, aber zumindest ein Zeichen gesetzt, was in dem Markt alles möglich ist. Und das war der Punkt, wo nicht nur die bereits vorhandenen Pioniere wie z.B. allyouneedfresh sich bestätigt sahen, sondern auch die klassischen deutschen LEH-Marktteilnehmer gesagt haben: Da müssen wir jetzt einsteigen.

Was ist das Erfolgsgeheimnis von Amazon?

Wenk-Fischer: Wir reden hier nicht nur von einem umfassenden Marktplatz. Die Kernkompetenz von Amazon ist seine hervorragende Logistik. Das Unternehmen ist mit verschiedenen Partnern in Deutschland so gut vernetzt, dass insbesondere Fulfilment und die sogenannte letzte Meile der Belieferung effizient funktionieren. Davon kann der deutsche Handel noch viel lernen.

Wie wird sich der Online-Handel weiter entwickeln?

Wenk-Fischer: Nachdem es ja auch schon zuvor Pioniere gab, hat Amazon einen großen Stein ins Wasser geworfen, und jetzt breiten sich die Kreise immer weiter aus. Wir haben in Deutschland relativ bescheiden begonnen und eher das Geschäft beobachtet. Jetzt aber rechnen wir mit einem exponentiellen Wachstum...

...in allen Regionen gleichmäßig?

Wenk-Fischer: Nein, es gibt Unterschiede zwischen dem flachen Land und Ballungsräumen. Das Internet hat sich zunächst vor allem in den Ballungsräumen etabliert – also dort, wo die Menschen eigentlich gut mit Lebensmitteln versorgt sind. Und trotzdem haben sie stark im Internet bestellt. Hier gibt es im Unterschied zu ländlichen Regionen inzwischen den 24-Stunden-Service, Same Day Delivery oder feste Zeitfenster.

Was ist der Grund?

Wenk-Fischer: Der Lebensmittelhandel in ländlichen Regionen ist derzeit abgekoppelt vom Geschehen innerhalb der Ballungsräume. Ein Beispiel: Bis zur Jahrtausendwende hatten Supermärkte, damit sie sich rechnen, ein Einzugsgebiet von ungefähr 3.500 Personen; heute sind es 5.000. Das heißt, Kommunen die nicht im gleichen Maße mitwachsen, werden von der Entwicklung abgekoppelt.

Was bedeutet das für die Politik?

Wenk-Fischer: Laut Grundgesetzt hat die Politik das Ziel, die Gleichwertigkeit der Lebensverhältnisse für die gesamte Bevölkerung sicherzustellen. Sie steht also vor der Frage, wie das hinzubekommen ist, wenn stationäre Geschäfte auf dem flachen Land nicht mehr wirtschaftlich betrieben werden können. Da bietet sich E-Commerce, der die viel älteren Probleme nicht verursacht hat, als Lösung an, um die Versorgungslücke zu schließen.

Treibt das nicht die Logistikkosten der Händler in die Höhe?

Wenk-Fischer: Um das abzufedern, müssen beispielsweise die Touren mit Hilfe einer intelligenten Software optimal geplant werden. Aber die Digitalisierung betrifft nicht nur den Handel selbst, sondern die gesamten Prozesse rund um die Warendistribution. Zudem ist das auch ein Mengenthema: Mit dem zunehmenden Wachstum lohnen sich solche Prozesse eher.

Werden sich stationär und online getrennt entwickeln?

Wenk-Fischer: Nein, sie werden mit dem Handel verzahnt und dort integriert. Man muss den Handel ganzheitlich sehen – als kreatives und ertragreiches Miteinander von beiden Vertriebswegen. Das wird auch zu einem völlig neuen Verständnis von Groß- und Einzelhandel kommen. Jeder Kaufmann wird sein Geschäftsmodell dahingehend auf den Prüfstand stellen müssen.

Und was ist auf der Verbraucherebene zu erwarten?

Wenk-Fischer: Hier wird es zu einer Trennung kommen: Es wird einerseits um Sortimente gehen, die für den Kunden attraktiv und emotional besetzt sind und wo er sich inspirieren lassen will. Andererseits sind damit Waren gemeint, die lediglich der Grundversorgung dienen und wo das Einkaufen nur störungsfrei als reibungslose Beschaffung ablaufen soll.

Was verstehen Sie unter Grundversorgung?

Wenk-Fischer: Zum Beispiel Verbrauchs-Produkte wie Toilettenpapier und Waschmittel oder Getränkekisten etc. Hier wird dank des Online-Handels der Tag kommen, wo man sich als Kunde mit Fragen der Grundversorgung nicht mehr aufwändig beschäftigen muss. Die Folge? Aus der Holschuld des Verbrauchers wird die Bringschuld des Handels. Er wird mehr an seine Kundschaft heranrücken müssen – auch deshalb übrigens, weil er zunehmend unter Druck gerät, da die Hersteller das Thema „Belieferung mit Gütern der Grundversorgung“ künftig stärker selbst abdecken werden.

Was bedeutet das für die Branche?

Wenk-Fischer: Der Handel muss sich die Frage stellen, ob er sich nur als Distributor sieht oder ob er einen Mehrwert für den Verbraucher schaffen soll. Der Hersteller wiederum wird prüfen, ob er für bestimmte Produkte den Handel als Absatzmittler überhaupt noch braucht oder ob er das nicht selbst erledigen kann. Das dürfte der Handel nur wenig amüsant finden. In der Tat ist das eine Entwicklung, die im Hintergrund recht konfliktreich zwischen Hersteller und Handel ausgetragen wird. Denn faktisch handelt es sich um einen Paradigmenwechsel für den Handel: Er muss intensiv umdenken.

In welche Richtung?

Wenk-Fischer: Die große Kunst des Kaufmanns besteht derzeit darin, sein Sortiment zusammenzustellen; er muss antizipieren, was die Kunden kaufen werden, muss also selektiv vorgehen. Das Amazon-Prinzip sah zu Beginn anders aus: Da man nicht sämtliche Produkte permanent vorhalten konnte, lag die Kunst darin, sich die Produkte schnell zu besorgen und auszuliefern.

Wie beschreiben Sie diesen Prozess?

Wenk-Fischer: Er war nicht angebots-, sondern nachfragegesteuert. Mittlerweile ist Amazon allerdings so weit, dass man infolge höchster Computer- und IT-Kompetenz bestimmte Nachfrage-Entwicklungen bereits antizipieren kann.

Wo bleibt da die kompetente Beratung?

Wenk-Fischer: Die Kunden bekommen heute aus dem Internet viel mehr Informationen über Produkte, als ihnen die Mitarbeiter eines Supermarkts geben können.

Wie kommt’s?

Wenk-Fischer: Denken Sie an die Bewertung von Produkten über Social Media sowie unterschiedliche Dialogmöglichkeiten und Querverweise. Das kann ein Verkäufer im stationären Geschäft in diesem Umfang gar nicht draufhaben. Generell muss man sich von dem Gedanken lösen, das Internet sei ein Billigheimer. Ganz im Gegenteil: Man hat es dort mit hervorragendem Service, höchster Transparenz, umfassender Kompetenz und vernünftigen Preisen zu tun.

Apropos Transparenz: Wie schätzen Sie die Politik in Sachen Digitalisierung ein?

Wenk-Fischer: In Deutschland hat sich in Sachen Digitalisierung in den vergangenen Jahren nicht viel getan. Unsere Branche ist vielmehr von der EU-Politik geprägt. Wenn zum Beispiel Brüssel der Meinung ist, Geoblocking muss sein, dann kann die deutsche Regierung zwar versuchen, auf die Ausgestaltung der Vorschriften Einfluss zu nehmen. Aber die Entscheidung trifft die EU.

Keine eigenständige Position Berlins?

Wenk-Fischer: Im Koalitionsvertrag der jetzigen Regierung wird Abstand genommen von der früheren Schulmeister-Position, wir Deutschen könnten alles noch ein bisschen besser machen. Heute ordnet man sich in den europäischen Kontext ein. Das begrüßen wir, weil damit gleiche Rahmenbedingungen für die Geschäftstätigkeit innerhalb Europas gewährleistet sind.

Gleiche Rahmenbedingungen auch bei der digitalen Infrastruktur?

Wenk-Fischer: Hier haben wir in der Tat massiven Nachholbedarf. Wir freuen uns jedoch, dass sich die neue Bundesregierung dieses Themas annimmt. Wir haben aber nicht nur Probleme bei der Infrastruktur.

Nämlich?

Wenk-Fischer: Es gibt in unserer Branche einen massiven Fachkräftemangel. Was wir brauchen, ist eine flächendeckende Ausbildung von E-Commerce-Kaufleuten, und zwar unter besonderer Berücksichtigung ländlicher Regionen. Deshalb starten wir im August dieses Jahres einen entsprechenden Ausbildungsberuf, der sich explizit mit den besonderen Anforderungen unserer Branche beschäftigt.

Finden Sie Gehör bei der Bundesregierung?

Wenk-Fischer: Im Koalitionsvertrag gibt es Indizien, dass die Politik langsam aufwacht.

Ein separates Ministerium für Fragen der Digitalisierung – könnte das mehr Schwung bringen?

Wenk-Fischer: Nein, wir halten das für nicht zielführend. Die Entscheidung, die Position einer Staatsministerin für Digitales als Koordinierungsstelle im Bundeskanzleramt zu installieren, ist allemal besser. Es bringt überhaupt nichts, ein separates Ministerium für eine derart umfassende Querschnittsfunktion zu schaffen.

Bleibt da nicht vieles auf der Strecke?

Wenk-Fischer: Die Kabinettsmitglieder haben erkannt, wie wichtig die Digitalisierung für jedes ihrer Ministerien ist. Aber nicht nur die Erkenntnis ist da, auch der Wille zum Handeln ist da. Nun kommt es darauf an, dass und wie das Thema in der Praxis umgesetzt wird.

Gibt es auch unsinnige Vorhaben?

Wenk-Fischer: Ja, zum Beispiel dass der Versandhandel mit verschreibungspflichtigen Medikamenten zum Schutz der Apotheken verboten werden soll. Verallgemeinert heißt das ja: Man verbietet den Versandhandel, um den stationären Handel zu schützen. Mit der gleichen Argumentation könnte man den Onlinehandel in anderen Branchen untersagen, also auch im Lebensmittelhandel. Das ist absurd, denn der Onlinehandel ist nicht Schuld an der demografischen Entwicklung oder dem Landärztemangel, kann aber deren Folgen für die Bevölkerung sogenannter strukturschwacher Räume lindern.

Welche Perspektiven sehen Sie generell?

Wenk-Fischer: Ich bin zuversichtlich, dass wir im Bereich E-Commerce künftig vernünftige, das heißt ordnende und weniger beschränkende Normen haben werden. Dafür sorgt schon das Kaufverhalten der Konsumenten – gewissermaßen als normative Kraft des Faktischen.

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