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Wie der Lebensmittelhandel "Realität plus" schafft

Metaversen – noch sind sie nichts weiter als der Traum einer virtuell „begehbaren Version des Internets“. Doch schon heute ist absehbar, dass darin die Zukunft auch des LEH liegt. Für Experten steht daher fest: Wer jetzt nicht einsteigt, verpasst den Anschluss an das (Online-)Shopping von morgen.

Noch ist das Metaverse eine Zukunftsidee. Wer jetzt nicht einsteigt, so glauben Experten, verliert den Anschluss an das Shopping von morgen. Foto: AdobeStock/xyz+
Von Anke Pedersen | Fotos: Fotos: stock.adobe.com/xyz+

Besser hätte es für das Team um Alexander Kutter und Kristian Horns nicht laufen können. Erst 2019 hatten der Virtual-Reality- (VR)- und der Handelsexperte VR Insight gegründet, ein Unternehmen, das den Einzelhandel fit machen soll für die Zukunft des Verkaufens — und schon auf der EuroShop 2020 erhielten sie den Retail Technology Award (RETA) 2020 „für eine herausragende Technologielösung im Handel“ in der Kategorie „Best Enterprise Solution“.

Überzeugt hatte das Start-up mit der Entwicklung einer Virtual-Reality-App für die Firma Getränke Hoffmann, mit der sich neue Filialen bereits vor dem ersten Spatenstich virtuell durchwandern und somit verschiedene Szenarien durch die Feinabstimmung von Produktplatzierungen, Regalen, Promotions und Einrichtungselementen in Echtzeit testen lassen. Ohne großen Investitionsaufwand, schnell, effizient und schlank.
 

Seitdem haben sich die Ereignisse überschlagen. Kannten bis 2021 bestenfalls Sci-Fi-Fans den Begriff „Metaverse“ als Synonym für digitale Welten, hat die Umbenennung von Facebook in Meta einen regelrechten Hype ausgelöst: Längst arbeiten nicht nur Tech-Giganten wie Microsoft, Amazon, Google und Apple an der Entwicklung „einer begehbaren Version des Internets“, wie Alibaba-Gründer Jack Ma es 2017 nannte. Auch Handel und Hersteller investieren kräftig in immer neue Testballons in Form virtueller Shops, Spiele und Events für die technikaffine Virtual-Reality-Community. Allen voran globale Hipster-Marken wie Nike, Adidas, Walt Disney und Gucci.
 

 


 

Metaverse? Das sagen die Experten
 

„Sicher ist, dass sich Händler damit beschäftigen müssen. Ich weiß nicht, wie das Geschäft der Zukunft aussieht, aber definitiv weiß ich, dass für Firmen, die sich heute noch nicht aktiv damit beschäftigen, Erfahrungen sammeln und so weiter, der Zug dann abgefahren ist. Die können dann nur noch hinterherlaufen.
Kristian Horns, geschäftsführender Gesellschafter bei VR Insight


„Diejenigen, die jetzt nicht zumindest einige der aktuellen Phänomene aufgreifen, laufen Gefahr, abgehängt zu werden.“
Max Orgeldinger, Mitglied der Geschäftsleitung der Berliner Digitalagentur TLGG

 

„Die wichtigste Lehre ist: Einfach mit gesundem Menschenverstand reingehen, mitgehen und lernen.“ Frank Rehme, Handels- und Innovationsexperte sowie Chef der GMV GmbH „Wir sind auf einem Zug, der zwar gerade noch langsam, aber doch unaufhaltsam fährt.“
Alexander Kutter, geschäftsführender Gesellschafter bei VR Insight

 


 

Das Zauberwort hier wie dort heißt Consumer/Customer Experience: Kunden mit möglichst begeisternden Erlebnissen – nicht zuletzt 
online – zum Kaufen zu bewegen. Längst überfällig finden dies Experten wie der langjährige Metro-Manager Frank Rehme: „Schauen Sie sich doch mal Amazon-Screenshots von vor 15 Jahren an“, wettert der Handels- und Innovationsexperte, „die sehen genauso aus wie heute. Da ist wenig Inspiration und man findet nur das, was man explizit sucht.“ In Metaverse wittert Rehme dagegen riesige Chancen. „Metaverse ist Next-Level-E-Commerce, das wird das Online-Shopping der Zukunft.“ 

Wie die Zukunft aussieht

Doch gilt das auch für den LEH? Werden sich die Kunden von Edeka, Rewe und Co. tatsächlich VR-Brillen aufsetzen, um in einem virtuellen Supermarkt einzukaufen? Für nurmehr Kaffeesatzleserei hält das der Digitalexperte Max Orgeldinger: „Die eigentliche Vision des Metaverse – eine virtuelle Welt, die fast gleichwertig zur physischen ist – liegt deutlich über zehn Jahre in der Zukunft“, warnt der Managing Director von TLGG Consulting vor falschem Aktionismus. Gleichwohl rät er dazu, sich schon heute mit aktuellen Trends und Technologien auseinanderzusetzen, um sich Schritt für Schritt „auf das Metaverse“ – die Zukunft also – zuzubewegen. 

Wunsch nach Erlebnissen

In gleichsam größerem Maßstab tut dies die Fastfoodkette McDonald’s, die laut Handelsblatt derzeit den Betrieb virtueller Restaurants inklusive Lieferservice vorbereitet. Es ist der Versuch, dem wachsenden Wunsch nach Erlebnissen zu entsprechen; aber eine Blaupause auch für den hiesigen Handel? Orgeldinger winkt ab: „Die Frage ist doch immer: Was ist mein Ziel, und was ist der effizienteste Weg, dieses Ziel zu erreichen?“

McDonald’s sei gerade für Jüngere immer auch Treffpunkt gewesen, im Virtuellen funktioniere das so aber nicht. Wie überhaupt 1:1-Über-
tragungen niemals klappten, so Orgeldinger. „Aus einer Bibliothek wird Wikipedia, aus Walmart wird Amazon mit einem deutlich größeren Angebot.“
 


Das Internet der Zukunft

Metaverse? Der Begriff ist ein Kunstwort aus „Meta“ und „Universum“ aus dem Science-Fiction-Roman „Snow Crash“ von 1992. Umgangssprachlich ist ein Metaversum ein Netzwerk aus digitalen, dreidimensionalen Erlebniswelten, in denen Menschen fast alles tun können, was sie auch im realen Leben tun: einkaufen, Konzerte besuchen, Kontakte knüpfen. Die Virtual-World-Plattform Second Life aus dem Jahr 2003 gilt als Prototyp eines Metaversums. Wieso der Hype? 2021 hat Facebook-Gründer Mark Zuckerberg seinen Konzern in „Meta“ umbenannt und sich zur Entwicklung eines Metaversums verpflichtet; andere Tech-Giganten wie Microsoft und Apple wollen nicht zurückstehen und arbeiten an eigenen Konzepten für virtuelle Welten. Wo ist das? Mit Hilfsmitteln wie einer Virtual Reality-Brille (VR) können Nutzer in computergestützte 3D-Welten eintauchen. Mit  Augmented Reality (AR) lässt sich das Virtuelle auch in die reale Welt projizieren. AR bedeutet, dass Nutzer die reale Welt sehen – ihre Umgebung — und über ihr Smartphone oder eine AR-Brille Informationen eingeblendet bekommen, Pokémon-Monster zum Beispiel. Es gibt aber auch schon Anwendungen, mit denen Käufer Kleidung via AR „anprobieren“ können.


 

Auch VR-Insight-Chef Kristian Horns sieht wenig Sinn darin, einen Supermarkt 1:1 in virtuell abzubilden. Vielmehr kann er sich eine Art individualisierten „MyShop“ vorstellen, in dem Kunden einzelne Abteilungen wie auf einem Tablet auch in 3D einfach wegwischen können. Aktuell gilt sein Interesse jedoch den Möglichkeiten der Gegenwart. Als ein Beispiel nennt er einen kleinen Dorf-Supermarkt, der keinen Platz für eine große Marmeladenauswahl oder Weinabteilung hat. Dieser könnte seinen Kunden vor Ort eine VR-Brille zur Verfügung stellen, über die diese dann Zugriff auf das gesamte Warensortiment von Edeka, Rewe und anderen hätten. Horns und sein Partner Alexander Kutter sind sicher: „Mit der Auswahl und dem entsprechenden Erlebnis ließe sich der stationäre Handel ganz leicht verlängern beziehungsweise vergrößern. Wir schaffen Realität plus.“ 

Virtuelles Angebot


Das wäre Phase eins. In Phase zwei könnte dann ein ganzer Markt virtuell abgebildet werden. Alternativ, und darin sehen beide das eigentliche Potenzial, könnten einzelne Anbieter eine Art Kiosk oder Fläche in bestehende Supermärkte integrieren und dort ihr Angebot virtuell präsentieren. „Das ginge mit einem realen Check-out via PayPal und wenn Logistikdienstleister wie etwa Gorillas 20 Minuten später vor der Tür des Kunden stehen, um die bestellten Waren zu liefern.“ Die Frage ist, ob es Supermärkte dann überhaupt noch bräuchte.
 


Mehrheit der Bürger interessiert

Online Waren zu bestellen ist das eine – aber reisen oder einkaufen in einer virtuellen Welt? So abwegig ist das gar nicht, wie eine repräsentative Online-Befragung der Mediaagentur OMG Germany von Januar 2022 zeigt: Während 11 % der Befragten bereits in virtuellen Welten unterwegs waren (überwiegend „Gamer“), stehen 18 % in den Startlöchern, und immerhin 32 % bekunden ihr Interesse – insgesamt ist das die Mehrheit der Bundesbürger (61 %). Dagegen stehen 27 %, die sich das Eintauchen in virtuelle Welten (noch) nicht vorstellen können, nur 12 % schließen die Nutzung gänzlich aus. Reisen, spielen, shoppen Höchst unterschiedlich sind die Interessen und Erwartungen derjenigen, die sich einer Nutzung gegenüber aufgeschlossen zeigen: Je knapp die Hälfte will in einem Metaversum reisen (48 %), spielen (46 %) oder sich bilden (45 %). Den sozialen Austausch oder eine Shoppingtour haben je 41 % im Visier, und gut ein Drittel (37 %) wünscht sich kulturelle  Erlebnisse.


 

Wenig Fläche, großes Angebot? Eine Verbindung von online und offline


Das Prinzip zumindest hat Hema, eine Tochter des chinesisches Amazon-Pendants Alibaba, bereits 2016 mit „Fresh Hippo“ realisiert: einem Supermärkt, der Online und Offline verbindet: Fresh Hippo punktet mit der Garantie, Bestellungen im Laden innerhalb von 30 Minuten zu liefern, wenn Kunden in einem Umkreis von drei Kilometern um einen entsprechenden Shop wohnen. Bezahlt wird mit der ohnehin weitverbreiteten App AliPay, die Lieferung erfolgt über die flächendeckende Infrastruktur des Mutterkonzerns. Über die Alibaba-App haben Kunden zudem Zugang zu einem deutlich breiteren Sortiment inklusive Nonfood-Produkten und Haushaltsgeräten. Personalisierte Empfehlungen, die künstliche Intelligenz aus früheren Einkäufen erstellt, erweitern das Angebot.

Der Traum aller Einzelhändler


Mit durchschlagendem Erfolg: Schon 2019 kamen die Strategieberater Pascal Martin und Jack Chuang zu dem Ergebnis, dass ein Großteil der Kunden nach dem Besuch eines Hema-Geschäfts zusätzlich auch online bestellen, „satte 25 Prozent werden sogar zu reinen Online-Käufern“. Damit, so die Berater, stehe Fresh Hippo für den „wahr gewordenen Traum aller Einzelhändler, Kunden mit einer begrenzten physischen Präsenz zu gewinnen und diese online zu pflegen“. Ihre Empfehlung lautete schon im Jahr 2019: „Omnichannel-Erfolg entsteht nicht einfach durch das Hinzufügen weiterer Kanäle zu den bestehenden. Es geht darum, ein unverwechselbares Wertangebot zu schaffen, einschließlich einer Multi-Touchpoint-Einkaufsreise, die die Bedürfnisse der Kunden wirklich erfüllt.“


Einsteigen oder hinterherrennen 


Zugegeben: Hema-Mutter Alibaba ist ein Gigant und China ein vollkommen anderer Markt als Deutschland. Doch auch hierzulande sind Unternehmer nicht davor gefeit, auf die sich verändernden Bedürfnisse ihrer Kundschaft reagieren und sich entsprechend darauf einstellen zu müssen. „Derzeit lernen wir noch durch die Anforderungen unserer Kunden“, sagt VR-Insight-Chef Kristian Horns. Schon bald dürfte diese Startphase jedoch vorbei sein: „Wer jetzt nicht einsteigt, der wird sich in zwei bis drei Jahren sagen lassen müssen, was er zu lernen hat. Der gestaltet dann nicht mehr.“

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