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Zukunft Handel II: Der nächste Schritt

Die Digitalisierung des Einzelhandels lässt sich nicht mehr aufhalten, so viel steht fest. Weniger klar ist aber, wie schnell dieser Prozess tatsächlich ablaufen muss, um als Händler am Ball zu bleiben, und welche technologischen Umwälzungen das Einkaufen der Zukunft tatsächlich prägen werden. Wir wagen einen Ausblick.

KI an der Decke: Gut 200 Kameras sind in dem neuen Rewe Pick & Go in Köln verbaut, welche die Handlungen der Kunden zielgenau erfassen. Foto: Rundschau/Thürer
Von Alexander Thürer | Fotos: RUNDSCHAU / Alexander Thürer

Erinnern Sie sich noch an World of Music? Das waren bis in die frühen 2000er-Jahre die führenden Tonträgerkaufhäuser im Land, mit endlosen Regalreihen voller CDs und Vinyl. Hier verbrachten Musik-Freaks Stunden und Tage damit, in Tracks und Alben reinzuhören und durch die Genres zu stöbern. Kaum jemand hätte sich damals vorstellen können, dass diese Institution quasi über Nacht von einer technologischen Revolution dahingerafft werden könnte. Doch die MP3 machte Plattenläden auf einen Schlag obsolet. Im Spotify-Zeitalter erscheint ein solches Geschäftsmodell rückblickend geradezu absurd. Ganz ähnlich ergeht es gerade einem weiteren Fossil: den Videotheken, deren endgültiger Tod in Form von Streamingdiensten wie Netflix unaufhaltsam heranrollt. Man braucht sie schlicht nicht mehr. Was hat das aber alles mit dem Lebensmitteleinzelhandel zu tun? Ziemlich viel, denn ein kluger Kaufmann sollte sich stets darüber Gedanken machen, wie eine vergleichbare technologische Disruption für den LEH aussehen könnte. Im Kern geht es um die Frage: Welche Entwicklung hat das Potenzial, mein derzeitiges Geschäftsmodell in kürzester Zeit auszuhebeln?

Aus Sicht des Kunden denken
Nun hat der Lebensmittelhandel natürlich einen unbestreitbaren Vorteil gegenüber CDs und Videokassetten: Er bietet Produkte des täglichen Bedarfs, die man immer benötigen wird. Aber wie werden diese in Zukunft den Kunden erreichen, welche neue Art des Einkaufens wird in naher Zukunft Normalität sein? Mit diesen Fragen hat sich unter anderem der Autor und Foodaktivist Hendrik Haase in seinem aktuellen Buch „Food Code“ beschäftigt. Darin wird klar, dass man bei möglichen Disruptionen zwischen Angeboten unterscheiden muss, die schon jetzt den LEH umgehen, und solchen, die thematisch zunächst weit weg erscheinen, aber das Potenzial haben, das Einkaufsverhalten der Kunden nachhaltig zu verändern.
 

Auslaufmodell stationärer Handel?
Zu ersteren zählen beispielsweise Direktvermarktungsplattformen für Bauern (z. B. Pielers.de, Kaufnekuh.de), die den Bauern ermöglichen, ihre Produkte lokal und direkt zu vermarkten. Das nimmt den Erzeugern den Preisdruck des Handels, und sie können Produkte verkaufen, die sie früher aus optischen Gründen hätten aussortieren müssen. Heißt: Je attraktiver ein direker Vertriebskanal für Erzeuger wird, umso unattraktiver werden Partnerschaften mit dem LEH, was dessen Regionalsortiment beeinflusst. Weitaus disruptiver werden jedoch Technologien sein, die das zukünftige Konsumverhalten und die Lebensweise der Kunden verändern. Dazu zählen zum Beispiel smarte Küchengeräte, die den User nicht nur mit Rezeptideen mit Gelinggarantie versorgen, sondern zukünftig benötigte Zutaten auch direkt online bestellen werden. Ähnliches gibt es bereits bei Kühlschränken, die autonom Waren nachordern. Der Gang in den Supermarkt wird überflüssig. Doch das könnte nur der Anfang sein, stellt Haase in seinem Buch fest. Koch-Apps (wie z. B. Whisk) erstellen für Gerichte auf die Personenzahl zugeschnittene Einkaufslisten und ermöglichen den direkten Kauf über angeschlossene Partner. Und hier schließt sich der Kreis zu den Kühlschränken: Samsung hat Whisk kürzlich übernommen. Von hier aus ist es nur noch ein kleiner Schritt bis zur vollständigen Kontrolle des Ernährungsplans. Der allgegenwärtige Trend zur Selbstoptimierung wird schon jetzt von Gimmicks auf die Spitze getrieben, die tief in das Innere des Users hineinblicken. So gibt es etwa Apps, die mit kleinen, auf die Haut geklebten Sensoren den Blutzuckergehalt messen und daraus Ernährungstipps ableiten. Start-ups wie „MyBioma“ untersuchen Stuhlproben der Kunden und leiten daraus Ernährungspläne ab, die beim Sport oder der Diät helfen und das allgemeine Wohlbefinden unterstützen sollen. Das alles wiederum hat Einfluss auf die Art des Konsums der Kunden und auf das, was und vor allem wo und wie sie kaufen. Verbinden sich viele Services und Gimmicks miteinander, so wird klar, dass es nicht mehr nur um smarte Geräte oder einzelne Apps geht. Alles dreht sich in Zukunft um die völlige Vernetzung. Die gesamte Lieferkette, vom Acker bis zum Teller und darüber hinaus, wird relevante Daten abwerfen. Das bedeutet im Umkehrschluss: Wer seinen stationären Markt zukunftsfähig aufstellen möchte, muss an möglichst viele Daten seiner Shopper kommen und sein Angebot, seine Dienstleistung und seine Verkaufskanäle der neuen Realität anpassen – oder diese am besten direkt mitgestalten!

Märkte müssen ihre Kunden kennen
Wie kann er aber aussehen, der Markt der Zukunft, welche Tools bieten allen Beteiligten einen Mehrwert – und sind vielleicht sogar schon vereinzelt im Einsatz? Ein spannender Ansatz ist die digitale Kundenkarte, transformiert in eine unternehmenseigene App und eine damit verbundene Instore-Navigation inklusive Location-Based-Marketing-Tool. Dieses Bundle ist in der Lage, ein ganz konkretes Problem des stationären Handels zu lösen: das begrenzte Wissen darüber, wo sich Kunden auf der Verkaufsfläche wie lange aufhalten und wie ihre Bewegungsmuster aussehen. Laut einer aktuellen Studie der Privaten Hochschule Göttingen messen lediglich 23 Prozent der befragten Unternehmen die Aufenthaltsdauer, und nur sechs Prozent verknüpfen diese Laufwege mit Kassendaten. Eine Auswertung der besuchten Warengruppen liegt ebenfalls nur bei sechs Prozent der Befragten vor. Der Studienleiter Prof. Dr. Hans-Christian Riekhof erkennt darin eine verschenkte Chance auf Zusatzumsätze am Regal. 
Mit seinem Unternehmen Locandis hat Riekhof nun im Hagebaumarkt C. J. Wigger in Neumünster ein System implementiert, das all diese Lücken schließen könnte. „Die Basis bildet die digitale Kundenkarte, die im Prinzip das Gleiche leistet wie Amazon: Sie erfasst, was das Kaufverhalten in der Vergangenheit war. Und diese Karte kann dann mit verschiedenen Funktionen verbunden werden, etwa einer Instore-Navigation und einem Location Based Marketing, da ich ja weiß, wann sich der Kunde an welchem Regal befindet.“ Das eröffne ganz neue Wege des Marketings, denn wenn sich ein Kunde zum Beispiel in der Süßwarenabteilung aufhalte, sei davon auszugehen, dass er sich auch für diese Warengruppe interessiere – was ihn am Ort des Geschehens empfänglicher für zugeschnittene Werbung mache. 
 

Kunden steuern und binden
Im Hagebaumarkt C. J. Wigger holte man sich hierfür Partner wie zum Beispiel Fischer Dübel mit ins Boot, die nun über die App den Endkunden direkt am Regal erreichen können, etwa durch kurze Erklärvideos, Coupons oder Befragungen. Ebenfalls von Locandis bereits in kleineren SB-Warenhäusern erprobt ist eine Gamification-Erweiterung, bei der die Kunden in verschiedenen Abteilungen virtuelle Puzzleteile sammeln konnten und hierfür Bonuspunkte erhielten. Kundenstromsteuerung mit Mehrwert für alle Beteiligten. Ein positives Fazit zieht auch Christian Wigger, Inhaber der Pilot-Hagebaumarktes in Neumünster: „Wir sind im Juni gestartet, und nach einigen Learnings im Thema Promotion kam Bewegung in die User-Zahlen. Allerdings haben Corona und die Notbremse im Mai den Start stark gebremst. Konkret sind wir bei etwas über 1.000 Usern. Wir sehen dies als Investition in unsere kurzfristige Zukunft, um den Kunden digital zu erreichen und ihn dann stationär analog zu begeistern. Wir glauben nach wie vor an den Faktor Mensch, Sehen, Hören, Riechen und Schmecken. Also den Kunden am Sonntagabend auf dem Sofa neugierig auf das Wochenerlebnis bei uns vor Ort zu machen. Da haben wir noch ein Stück Weg vor uns, aber wir entwickeln uns. Ich glaube, wir sind mittlerweile kein klassischer Baumarkt mehr und wollen vielseitiger werden.“

Shopping? In Zukunft vielleicht 24/7 
Digitale Kundenkarten sind die Zukunft. Das bestätigt auch Markus Buntz, Vorstandsvorsitzender der Bünting Unternehmensgruppe: „Es ist eine generell zu beobachtende Entwicklung, dass die digitalen Karten die klassischen Plastikkarten überholen und in der Zukunft auch komplett ablösen werden.“ Anbieten will man bei Bünting vorerst aber weiterhin beide Varianten ‒ und das aus gutem Grund, denn in Emden brachte man zuletzt den ersten hybriden Bünting Combi City Markt den Start. Der gut 500 Quadratmeter große Markt hat ergänzende Öffnungszeiten von 6 bis 9 Uhr sowie von 20 bis 23 Uhr und bietet dann in Ergänzung zum klassischen Einkaufen die Möglichkeit zum autonomen Einkauf. Zugang erhält man über die Bankkarte oder die Bünting-Kundenkarte (als App oder als physische Karte), der Bezahlvorgang läuft bargeldlos über die Self-Checkout-Kassen. „Wir sind mit der Resonanz auf den neuen Combi City Markt absolut zufrieden. Während des autonomen Betriebs in den Abendstunden kauft ein gemischter Kundenstamm bei uns ein, beispielsweise Anwohner und Hotelgäste, aber auch Studierende schätzen die Late-Night-Shopping-Möglichkeit“, zieht Buntz ein erstes Fazit. Ist das der erste Schritt in Richtung vollautonomen Einkaufens, bei dem der Mensch höchstens noch zum Befüllen der Regale benötigt wird? „Wir setzen auf wirtschaftlich tragfähige Lösungen, die ganz pragmatisch den technischen Fortschritt integrieren und dabei aber die Hürden für unsere Kunden möglichst niedrig halten“, so Buntz weiter. „Ein Angebot, das einen Einkauf rund um die Uhr, also auch am Sonntag, ermöglicht, haben wir mit unserem 24/7-Automaten ‒ mit automatischer Kommissionierung ‒ in der Innenstadt von Oldenburg bereits in 2020 umgesetzt.“ Das werde vor allem am Wochenende und an Feiertagen intensiv genutzt. 
 

Autonom, aber sicher
Autonomes Einkaufen wird den Handel in Zukunft sicherlich stark beschäftigen, sei es über vollautomatische Stores mit Selfscan-Lösungen oder über deren Implementierung in regulären Märkten. Und dieser Trend nimmt gerade erst so richtig Fahrt auf. „Im Vergleich zu 2019 hat sich die Zahl der Einzelhandelsgeschäfte mit stationären Self-Checkout-Systemen in Deutschland fast verdoppelt und bei mobilen Self-Scanning-Systemen sogar verzehnfacht“, erklärt beispielsweise Frank Horst, Autor einer aktuellen EHI-Markterhebung zum Thema Self-Checkout und Self-Scanning im deutschen Handel. Ein Problem, über das der Handel aber nicht gerne spricht, ist das der schwer zu überwachenden Betrugsversuche. Doch auch hier ist eine technische Lösung in Sicht: Bei Signatrix in Berlin entwickelt man gerade ein kameragestütztes Überwachungssystem, das einerseits Laufwege der Kunden trackt und Alarm schlägt, wenn diese vorgegebene Kassenbereiche ohne Scanvorgang passieren, und andererseits überprüft, ob auch alle Waren im Korb ordnungsgemäß gescannt werden. Ab Mitte 2022 soll das System zu haben sein.

Shoppen? Aber ohne Kasse!
So gefragt Self-Scanning und Self-Checkout vielerorts auch sind, sie sind nur ein Zwischenschritt, hin zu einem noch einfacheren und schnelleren Einkaufserlebnis. Die logische Weiterentwicklung ist KI-basiert, wird beispielsweise von Amazon Go seit Jahren in den USA eingesetzt und hat auf den ersten Blick schon etwas von Diebstahl, denn Kunden legen Waren nicht mehr in einen Korb oder Einkaufswagen, sondern direkt in ihre eigenen Taschen und verlassen den Markt ohne erkennbaren Bezahlvorgang. Der Trick: Kunden werden beim Betreten des Marktes von einem kameragestützten System erfasst, das aus jedem Shopper einen Avatar mit individuellen Skelettmerkmalen erstellt. Das System registriert jede Bewegung und Produktentnahme aus dem Regal und fügt die Waren der dem Avatar zugeordneten Rechnung hinzu. Zurückgelegte Waren werden ebenso erkannt und in Echtzeit wieder abgezogen. Nüchtern betrachtet ist das nichts weniger als die technologische Spitze der im Handel eingesetzten Bezahlsysteme, die nun auch Europa erobert. Die Vorreiterrolle übernehmen dabei Rewe (Pick & Go, Köln), Netto (München), Aldi Nord (Utrecht), Carrefour (Carrefour Flash, Paris) und Tesco (Tesco Express, London). Der 
Checkin-Prozess verläuft zumindest bei Rewe und Netto gleich: Über die Unternehmens-App erstellt sich der Kunde beim Betreten einen QR-Code, scannt diesen bei der Einlassschranke und bekommt in Moment des Verlassens des Marktes die digitale Rechnung zugeschickt. Die von Trigo Vision Ltd – einem auf Computer-Vision spezialisierten Unternehmen aus Israel – eingesetzte Technik ist DSGVO-konform: Es findet keine Gesichtserkennung statt, die Bewegungsdaten der Käuferinnen und Käufer bleiben anonym, und es werden keine biometrischen Daten gespeichert. Schneller und unkomplizierter kann man momentan stationär nicht einkaufen. 
 

Smart und erlebnisorientiert
Der Schlüssel zum Erfolg zukünftiger Supermärkte liegt also im intelligenten Einsatz von KI, das lässt sich an vielen Beispielen nachvollziehen. Der Handel muss in seine digitale Expertise investieren, um auch morgen noch attraktive Erlebnisse und Services jenseits des Onlinehandels bieten zu können. Vielleicht wird sich das Bild eines Supermarktes in einigen Jahrzehnten aber auch komplett gewandelt haben. Foodaktivist Hendrik Haase könnte sich sogar vorstellen, dass diese in Zukunft nur noch Showrooms nach Vorbild eines Apple-Stores sind, die primär inspirieren sollen und das Präsentierte dann nur noch per Lieferdienst zum Kunden bringen. Eine schöne Vorstellung?

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