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ForscherAuftritt Stephan Grünewald: Sinnliche Alltagsflucht bieten

Die Pandemie ist noch nicht mal richtig vorbei, schon verwehrt die nächste Krise den Menschen das Aufatmen. Stephan Grünewald verrät, was das mit unserer Seelenhygiene macht und wie sich der Handel darauf einstellen kann.

Stephan Grünewald, Rheingold Institut
Von Alexander Thürer | Fotos: Rheingold Institut

Die große Nach-Corona-Sause ist ausgeblieben. Stattdessen sehen die Menschen einer neuen Krise ins Auge, die für viele noch bedrohlicher wirkt. Was macht das mit uns?
Wir haben bei den Menschen schon vor Kriegsbeginn im Februar eine gewisse resignative Grundhaltung festgestellt. Man hat quasi schon damit gerechnet, dass sich Erwartungen nicht erfüllen und der nächsten Welle zum Opfer fallen werden. Alles wirkte perspektivlos, man war antriebslos, kreiste fast melancholisch um sich selbst. Das war eine Form der Enttäuschungsprophylaxe, die wir auch Melancovid genannt haben.

Und in dieser Phase kam dann die Kriegswirklichkeit dazu, in der wir zwei Phasen unterscheiden konnten. Zunächst verfielen die Menschen in eine Art Schockstarre, erfuhren ein überwältigendes Gefühl der Ohnmacht, verfolgten paralysiert die Nachrichten und hofften auf eine Wende zum Guten, vielleicht sogar durch höhere Mächte wie China, was aber nicht eintrat. Viele haben dann versucht, durch Solidaritätsbekundungen oder Spenden aus dieser Starre herauszukommen. 

Und in Phase zwei sind wir wieder in die aus den Anfangszeiten von Corona bekannten Muster des Hamsterns zurückgefallen … 
Korrekt. Die Leute merkten, dass es keine höheren Mächte gibt und man sich mit der neuen Situation arrangieren muss. Hamstern ist dann der Versuch, die eigene Handlungsfähigkeit zu bewahren. Das geht so weit, dass manche versuchen, ihr Leben vollkommen autark zu führen. Darüber wird die Kriegsgefahr aber auch aus der Wahrnehmung rausgedrängt und wird eher zu einem Dröhnen im Hintergrund. Das heißt, wenn man die Leute jetzt fragt, was sie bewegt, dann kommen oft Antworten wie Inflation, das schöne Wetter, Urlaubspläne, noch immer Corona – aber der Krieg wird manchmal mit keinem Wort erwähnt. Das sind jedoch normale Ablenkungsreaktionen, um nicht an der Welt zu verzweifeln.

Könnten wir vor diesem Hintergrund vielleicht sogar eine Art Trotzreaktion erleben, ganz nach dem Motto „Jetzt erst recht, wer weiß wie lange es noch geht“?
Wir erleben gerade beides. Immerhin fangen viele jetzt auch an zu sparen, selbst die Besserverdienenden, aus einer Art des solidarischen Verzichts heraus. Gleichzeitig kommen wir in eine Form der eskapistischen Selbstvergessenheit, da geht es um den Tanz auf dem Vulkan, um das Genießen des Augenblicks und um das Nachholen.
 
Ist dieses Genießen und Konsumieren als Art der Realitätsflucht nicht auch eine gute Nachricht für den Handel, der gerade recht pessimistisch in die Zukunft blickt?
Ich glaube tatsächlich, dass es nicht so schlimm werden wird, das haben wir auch 2008 bei der Finanzkrise erlebt. Damals wurden abstrakte materielle Werte in Lebenswerte umgewandelt. Heute ist es ähnlich, die Leute wollen das Leben nochmal spüren. 

Während Corona waren Lebensmittelmärkte auch ein letzter sozialer Begegnungsort. Muss der Handel jetzt also in eine neue Rolle schlüpfen, um erfolgreich zu sein?
Zum einen haben wir natürlich das Thema Handelsmarken, die dem Kunden ermöglichen, ohne Qualitätseinbußen clever zu sparen. Klar ist aber auch, dass die Menschen aus der Depression raus wollen und verstärkt Stimmungswandler suchen.

Wie kann der Handel dies aufgreifen?
Es gibt eine Sehnsucht nach heilen Welten, die jenseits unserer krisenhaften Alltagswirklichkeit liegen. Das kann der Handel beispielsweise über internationale Spezialitäten spielen, so wie McDonald’s damals bei der Aktion Los Wochos. Oder durch Retroreisen, in denen Produkte oder Marken Jubiläen feiern und uns zumindest emotional in die gute alte Zeit zurückversetzen.

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