Geht man von diesem Umfragewert aus, nimmt das Thema Lebensmittelunverträglichkeit in der deutschen Bevölkerung durchaus eine ernstzunehmende Größe ein: Bereits zehn Prozent der für den Statista Global Consumer Survey befragten Menschen geben an, eine oder mehrere Lebensmittelunverträglichkeiten zu haben. Gemeint sind dabei beispielsweise Laktoseintoleranz oder Zöliakie (Gluten-unverträglichkeit). Die Deutschen halten in der Umfrage den Mittelwert, knapp doppelt so viele sehen sich in Nigeria betroffen, gerade mal drei Prozent in Japan.
Unklar bleibt, ob die Unverträglichkeit auf medizinischer Diagnose oder Selbsteinschätzung beruht. Die Statistiker ziehen das Fazit: Bei den Angaben spielen nicht ausschließlich biologische, sondern auch gesellschaftliche Faktoren oder Ernährungstrends eine Rolle. Stimmt, sagt Ernährungswissenschaftlerin Eva-Maria vom Bruch, und schließlich habe das Ernährungs- und Gesundheitsbewusstsein nicht zuletzt durch die Pandemie einen deutlichen Schub bekommen: „Krisen wie diese befeuern die Sehnsucht nach einem gesunden Leben. Die Menschen fragen sich verstärkt: Was und wie esse ich, um mich gut zu fühlen?“
Umsatztreiber Lifestyle
„Das gute Gefühl“ in Bezug auf das eigene Wohlbefinden, aber auch gegenüber der Umwelt und dem Tierwohl ist nach Überzeugung vom Bruchs ein wesentlicher Treiber für den Erfolg der Free-From-Produkte. Entsprechend investieren Industrie und Handel mit Eigenmarken in Produkte ohne Laktose, Gluten, Konservierungs- oder Farbstoffe und Co. – der Markt boomt, allein der glutenfreie ist 2020 überproportional zum Gesamtmarkt gewachsen. Was für Menschen mit Intoleranzen ein Segen ist, sei für zunehmend mehr Verbraucher auch Ausdruck des Lebensstils, so vom Bruch.
Free-From- und Bio-Anbieter Alnavit bestätigt aus seiner Studie mit den Marktforschern der IFH Köln: „2020 griffen bereits 70 Prozent der Frei-von-Käuferschaft aufgrund des individuellen Ernährungsstils bewusst zu den Produkten – und nicht aufgrund einer Unverträglichkeit“, so Stavroula Ekoutsidou, Leitung Alnavit. „Essen an sich und die eigene Ernährungswünsche sind Teil der eigenen Lebensweise und Ausdruck der Persönlichkeit geworden.“ Resultat der immer intensiveren Beschäftigung mit Lebensmitteln ist aus Sicht der Marktbeobachter der Verbraucherwunsch nach cleanen und kurzen Zutatenlisten. Von Brot und Backwaren über das Trockensortiment, Snacks und Süßwaren bis zu Molkerei- oder Tiefkühlprodukten – sortimentsübergreifend wird in Sachen „frei von“ zugelegt.
Vor allem glutenfreie Ernährung ist im Trendstatus angekommen, wovon das Angebot profitiert, wie Glutenfrei-Spezialist Dr. Schär festhält: „Glutenfreie Ernährung ist für uns kein Trend, der Status hat aber positive Effekte für unsere Kernzielgruppe, Menschen, die tatsächlich von glutenbedingten Krankheiten betroffen sind. Sie trägt zu einer Steigerung der Nachfrage bei, was ebenfalls zur Vergrößerung der Produktvielfalt führt“, erklärt Matthias Müller-Thederan, Managing Director Dr. Schär Deutschland. Spielraum für die Sortimentsentwicklung gibt es reichlich, Dr. Schär arbeitet an Innovationen in den Bereichen Brot und Backwaren, Snacks und Convenience.
Ohne tierische Inhaltsstoffe, rein pflanzlich – auch der Ausbau des veganen Markts schreitet voran. Vor allem pflanzliche Milchalternativen sehen die Marktforscher des GfK Conumer Panel „auf dem Weg zur Regalvollständigkeit“. Um mehr als 40 Prozent haben Absatz und Umsatz etwa mit Milchalternativen auf Soja-, Mandel- oder Haferbasis im deutschen LEH 2020 zugelegt. Immer mehr Traditionshäuser konventioneller Molkereierzeugnisse betreten das Feld. Jüngst widmet sich zum Beispiel Familienmolkerei Rücker Käsealternativen – einem Bereich, der aus Expertensicht noch weiteren Raum für Innovationen lässt.
Die Reduktion von Zucker, Salz und Fett ist ebenfalls ein Thema, das viele Konsumenten beschäftigt, was sich nach Ansicht von Alnavit auch auf das Kaufverhalten im Frei- von-Segment auswirken werde. Neben der wachsenden Angebotsvielfalt von Produkten mit Verzichtserklärungen, vermitteln zahlreiche Hersteller über die Verwendung des Nutri-Score ihren Einsatz, Rezepturen diesbezüglich zu überarbeiten. Beispielsweise nimmt Nestlé die Nährwertkennzeichnung im gesamten Markenportfolio verstärkt zum Anlass, bei Innovationen und Renovationen etwa Anteile von Salz oder Fett zu optimieren. Dabei scheut sich der Konzern auch nicht, eine Süßware mit dem roten Buchstaben E als deutliches Zeichen für maßvollen Genuss zu versehen.