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Free From: das gute Gefühl

Warum finden immer mehr Konsumenten Geschmack an Frei-von- oder Clean-Label-Produkten? Was treibt die Käufergruppe an? Fest steht: Von Unverträglichkeiten über Lifestyle-Orientierung bis hin zu Tierwohl- und Umweltaspekten reichen die Faktoren, von denen der Free-From-Markt aktuell profitiert.

Von Sibylle Menzel | Fotos: AdobeStock/ MissesJones, E-Center Warnow-Park, Dr. Schär Deutschland

Geht man von diesem Umfragewert aus, nimmt das Thema Lebensmittelunverträglichkeit in der deutschen Bevölkerung durchaus eine ernstzunehmende Größe ein: Bereits zehn Prozent der für den Statista Global Consumer Survey befragten Menschen geben an, eine oder mehrere Lebensmittelunverträglichkeiten zu haben. Gemeint sind dabei beispielsweise Laktoseintoleranz oder Zöliakie (Gluten-unverträglichkeit). Die Deutschen halten in der Umfrage den Mittelwert, knapp doppelt so viele sehen sich in Nigeria betroffen, gerade mal drei Prozent in Japan.

Unklar bleibt, ob die Unverträglichkeit auf medizinischer Diagnose oder Selbsteinschätzung beruht. Die Statistiker ziehen das Fazit: Bei den Angaben spielen nicht ausschließlich biologische, sondern auch gesellschaftliche Faktoren oder Ernährungstrends eine Rolle. Stimmt, sagt Ernährungswissenschaftlerin Eva-Maria vom Bruch, und schließlich habe das Ernährungs- und Gesundheitsbewusstsein nicht zuletzt durch die Pandemie einen deutlichen Schub bekommen: „Krisen wie diese befeuern die Sehnsucht nach einem gesunden Leben. Die Menschen fragen sich verstärkt: Was und wie esse ich, um mich gut zu fühlen?“

Umsatztreiber Lifestyle

„Das gute Gefühl“ in Bezug auf das eigene Wohlbefinden, aber auch gegenüber der Umwelt und dem Tierwohl ist nach Überzeugung vom Bruchs ein wesentlicher Treiber für den Erfolg der Free-From-Produkte. Entsprechend investieren Industrie und Handel mit Eigenmarken in Produkte ohne Laktose, Gluten, Konservierungs- oder Farbstoffe und Co. – der Markt boomt, allein der glutenfreie ist 2020 überproportional zum Gesamtmarkt gewachsen. Was für Menschen mit Intoleranzen ein Segen ist, sei für zunehmend mehr Verbraucher auch Ausdruck des Lebensstils, so vom Bruch.

Free-From- und Bio-Anbieter Alnavit bestätigt aus seiner Studie mit den Marktforschern der IFH Köln: „2020 griffen bereits 70 Prozent der Frei-von-Käuferschaft aufgrund des individuellen Ernährungsstils bewusst zu den Produkten – und nicht aufgrund einer Unverträglichkeit“, so Stavroula Ekoutsidou, Leitung Alnavit. „Essen an sich und die eigene Ernährungswünsche sind Teil der eigenen Lebensweise und Ausdruck der Persönlichkeit geworden.“ Resultat der immer intensiveren Beschäftigung mit Lebensmitteln ist aus Sicht der Marktbeobachter der Verbraucherwunsch nach cleanen und kurzen Zutatenlisten. Von Brot und Backwaren über das Trockensortiment, Snacks und Süßwaren bis zu Molkerei- oder Tiefkühlprodukten – sortimentsübergreifend wird in Sachen „frei von“ zugelegt.

Vor allem glutenfreie Ernährung ist im Trendstatus angekommen, wovon das Angebot profitiert, wie Glutenfrei-Spezialist Dr. Schär festhält: „Glutenfreie Ernährung ist für uns kein Trend, der Status hat aber positive Effekte für unsere Kernzielgruppe, Menschen, die tatsächlich von glutenbedingten Krankheiten betroffen sind. Sie trägt zu einer Steigerung der Nachfrage bei, was ebenfalls zur Vergrößerung der Produktvielfalt führt“, erklärt Matthias Müller-Thederan, Managing Director Dr. Schär Deutschland. Spielraum für die Sortimentsentwicklung gibt es reichlich, Dr. Schär arbeitet an Innovationen in den Bereichen Brot und Backwaren, Snacks und Convenience.

Ohne tierische Inhaltsstoffe, rein pflanzlich – auch der Ausbau des veganen Markts schreitet voran. Vor allem pflanzliche Milchalternativen sehen die Marktforscher des GfK Conumer Panel „auf dem Weg zur Regalvollständigkeit“. Um mehr als 40 Prozent haben Absatz und Umsatz etwa mit Milchalternativen auf Soja-, Mandel- oder Haferbasis im deutschen LEH 2020 zugelegt. Immer mehr Traditionshäuser konventioneller Molkereierzeugnisse betreten das Feld. Jüngst widmet sich zum Beispiel Familienmolkerei Rücker Käsealternativen – einem Bereich, der aus Expertensicht noch weiteren Raum für Innovationen lässt.

Die Reduktion von Zucker, Salz und Fett ist ebenfalls ein Thema, das viele Konsumenten beschäftigt, was sich nach Ansicht von Alnavit auch auf das Kaufverhalten im Frei- von-Segment auswirken werde. Neben der wachsenden Angebotsvielfalt von Produkten mit Verzichtserklärungen, vermitteln zahlreiche Hersteller über die Verwendung des Nutri-Score ihren Einsatz, Rezepturen diesbezüglich zu überarbeiten. Beispielsweise nimmt Nestlé die Nährwertkennzeichnung im gesamten Markenportfolio verstärkt zum Anlass, bei Innovationen und Renovationen etwa Anteile von Salz oder Fett zu optimieren. Dabei scheut sich der Konzern auch nicht, eine Süßware mit dem roten Buchstaben E als deutliches Zeichen für maßvollen Genuss zu versehen.

Am PoS: kein Fehlgriff möglich

Bei der optimalen Platzierung des Free-From-Warenangebots scheiden sich die Geister: Die Handelsempfehlung der Hersteller reicht von Blockplatzierung bis zur Einsortierung in das entsprechende klassische Warenangebot. Während beide Varianten den Käufern Vorteile bieten – klare Auffindung und Kennzeichnung beziehungsweise Wahlmöglichkeit unter verschiedenen Produktausführungen – geht Edeka-Kaufmann Stephan Cunäus einen anderen Weg.

Im E-Center Warnow-Park ist eine Themenwelt entstanden, 350 Quadratmeter groß, die unter dem Dach von Bio-Produkten übergreifend auch die vegane, gluten- und laktosefreie Vielfalt vollständig zusammenbringt, sowohl im Trocken- als auch im Frischesortiment, inklusive Kühlwaren und Getränke. „Die Kunden können zu jedem Produkt greifen, es ist immer zu 100 Prozent das, was sie suchen.“  

Weitere Besonderheit: Im Rostocker Markt gibt es anstelle von Markenblöcken die Aufteilung in Frühstück, Mittag- und Abendessen. Gerade seit den Corona-Zeiten, so Cunäus, dem Startschuss für eine noch eingehendere Auseinandersetzung mit der Ernährung, wird die Themenwelt dankbar von der Käuferschaft angenommen. Im Free-From-Bereich sieht Geschäftsführer Cunäus in allen Segmenten noch Potenzial: „Alle Sortimente können noch in die Tiefe gehen. Vor allem beim Thema Zucker und Zuckeralternativen ist aus meiner Sicht immer noch viel zu wenig Drive und Luft nach oben.“

Was bleibt von Zuckersüßem?

Nach jüngsten Verbraucherforschungen von Mintel teilen die Deutschen eine ähnliche Sicht, 63 Prozent zeigen sich jedenfalls darüber besorgt, wie Zuckerreduktion in Lebensmitteln und Getränken erreicht wird. Immerhin: 59 Prozent versuchen, weniger Zucker zu sich zu nehmen – essen dafür aber lieber weniger Produkte mit hohem Zuckergehalt als zu Light- oder Diät-Alternativen zu greifen (54 %).

Seitens der Industrie hat sich in den letzten fünf Jahren jedoch einiges getan, wie die Mintel-Forscher ermittelt haben: Europaweit liegt Deutschland mit den meisten Neueinführungen von Lebensmitteln und Getränken „ohne Zusatz von Zucker“ an zweiter Stelle (13 %) hinter Großbritannien (15 %). Aktuell häufen sich ambitionierte Absichtserklärungen, beispielsweise von Konzerngröße PepsiCo: In zwei Etappen soll bis 2030 der durchschnittliche Gehalt von zugesetztem Zucker im gesamten europäischen Softdrinksortiment um 50 Prozent gesenkt werden.

Im Label-Dschungel

„Zuckerfrei“ oder Prozentangaben der Zuckerreduktion werden künftig sicher noch verstärkter auf Verpackungen zu lesen sein, weitere Auslobungen zu Fertigung, Zutaten und Inhaltsstoffen kommen hinzu. Für Betroffene von Lebensmittelunverträglichkeiten macht jedes Label, das Auskunft über die Zusammensetzung eines Produktes gibt, einen entscheidenden gesundheitlichen Unterschied. Spätestens wenn Hartkäse, der von Haus aus laktosefrei sein sollte, mit dem entsprechenden Label versehen wird, stellt sich allerdings die Frage: Welche Auslobung ist für Kunden notwendig und sinnvoll?
 
Auf der Online-Plattform Utopia, Forum für Nachhaltigkeit, wird Kritik geübt: Manche Unternehmen würden sich mit unnötigen Kennzeichnungen Ernährungstrends und die Unsicherheit der Verbraucher zunutze machen, heißt es. Demgegenüber beweisen jedoch zahlreiche Hersteller durchaus Sensibilität für die Thematik, setzten auf Glaubwürdigkeit und Transparenz.

Beim Launch seiner neuen Natürlich-Gut-Dressings will beispielsweise Essig- und Feinkostspezialist Kühne mit dem Claim „Nur Zutaten, die du kennst“ auf die natürlichen, haushaltsüblichen Ingredienzien in verständlicher Form hinweisen, verzichtet aber bei zwei Dressings auf die laktosefreie Auslobung. Bei den entsprechenden Rezepturen falle dies unter „Werbung mit Selbstverständlichkeiten“, lautet der Kommentar. Tiefkühlanbieter Frosta pflegt bereits seit Jahren mit dem „Reinheitsgebot“ seinen Free-From-Ansatz: Fisch, Gemüse oder Gerichte sind ohne jegliche Zusätze produziert, selbst der Sammelbegriff Gewürze taucht nicht auf. Bei Frosta heißt das schlicht zusammengefasst: „Echtes Essen.“

Sinn oder Unsinn?

Für Menschen ohne entsprechende Diagnose sei der Verzicht auf Gluten nicht unbedingt angeraten, meint Ernährungswissenschaftlerin Eva-Maria vom Bruch, und einer ballaststoffreichen Ernährung sei der Verzug zu geben. Der Verzicht beziehungsweise die Reduktion von Laktose sei allein aus Tierwohlgründen dagegen schon sinnvoller. Beim Thema Zucker räumt der Süßstoff-Verband mit der Meinung auf, der Konsum von süßen Lebensmitteln und Getränken führe auch zu einer erhöhten Süßepräferenz. Diese Spirale gebe es nach einer wissenschaftlichen Studie nicht.

 

„In allen Bereichen kann noch zugelegt werden.“ – Interview mit Stehpan Cunäus, Geschäftsführer E-Center Warnow-Park

 

Das Clean-Label-Angebot wächst. Wo sehen Sie noch Potenzial?
Aus meiner Sicht kann in allen Bereichen noch zugelegt werden. Langfristiges Ziel sollte es sein, dass in allen klassischen Sortimentsbereichen Alternativen zur Verfügung stehen.

Wer greift zum Angebot?
Seit Corona haben wir sehr guten Zuspruch, vor allem Glutenfrei wird altersübergreifend gekauft. Bio tut sich bei der älteren Generation etwas schwer.

Wie sehen Sie die Zukunft für die Fläche Free From, Bio und Co.?
Wir haben alles in einer großen Themenwelt zusammengefasst, die wir noch weiter vergrößern wollen. Der Kunde erfährt durch die Aufwertung dieses Bereichs auch eine Aufwertung seines Einkaufs. Wir denken, dass das zusätzlich dazu beitragen wird, den Trendfaktor dieser Produkte aufrechtzuerhalten, auch über die Krise hinaus.

„Auf der Suche nach Abwechslung und Neuheiten.“ – Interview mit Matthias Müller-Thederan, Managing Director Dr. Schär Deutschland

 

Der glutenfreie Markt ist 2020 überproportional zum Gesamtmarkt gewachsen – wie ist die Entwicklung zu erklären, was treibt den Markt an?
Haupttreiber für diese Entwicklung sind vor allem Veränderungen und Einschränkungen, die durch die Covid-19 Pandemie ausgelöst wurden. Insbesondere Kategorien wie Mehl, Pasta und TKK haben von den Auswirkungen profitiert. Diese Kategorien haben einen großen Anteil am glutenfreien Markt, was unter anderem das überproportionale Wachstum erklärt.

Laut einer Umfrage von Splendid Research 2020 achten über ein Drittel der Kunden ohne Unverträglichkeiten auf die Auslobung «Free From». Welche Motivation sehen Sie dahinter? Wie definieren Sie die Käufergruppe?
Immer mehr Menschen in Deutschland sind Transparenz und die Natürlichkeit von Produkten sehr wichtig, dazu zählen auch unsere Kunden. Deshalb verzichten wir von Schär seit jeher auf den Einsatz von Zusatzstoffen und Konservierungsstoffen. Das Interesse an einer bewussten Ernährung ist in den letzten Jahren insgesamt gestiegen, die Verunsicherung während der Pandemie hat diesen Trend zusätzlich verstärkt.

Kunden ohne Unverträglichkeiten, die „Free from“ Produkte kaufen, nennen wir Gesundheitsbewusste“ bzw. „Trendshopper“. Natürlich nehmen wir wahr, dass die
glutenfreie Ernährungsweise häufig als Trend betitelt wird, denn es gibt viele Menschen, die sich glutenfrei ernähren, weil sie sich davon erhoffen, gesünder, schlanker oder fitter zu werden. Das wiederum hat positive Effekte für unsere Kernzielgruppe, die Menschen, die tatsächlich von glutenbedingten Krankheiten wie beispielsweise einer Zöliakie oder an einer Gluten-/Weizensensitivität betroffen sind, da dies zu einer Steigerung der Nachfrage nach glutenfreien Produkten beiträgt, was ebenfalls zur Vergrößerung der Produktvielfalt führt. Im Supermarkt soll unsere Zielgruppe auf einen Blick erkennen, was sie kauft – „frei von Gluten“.

Zum Sortiment: Wo sehen Sie generell noch Spielraum? Was sind Ihre Pläne für die Sortiments- und Markenentwicklung?
Mit unseren glutenfreien Produkten sind wir in vielen verschiedenen Kategorien vertreten. In Zukunft möchten wir noch stärker auf die die jeweiligen Kategoriebesonderheiten und Konsumentenbedürfnisse eingehen. Besonders in den Bereichen Brot- und Backwaren sowie Snacks und Convenience arbeiten wir an Innovationen, denn unsere Kernzielgruppe ist immer auf der Suche nach Abwechslung und Neuheiten.

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