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ForscherAuftritt: Stephan Grünewald – Erst Euphorie, dann Kater

Die jüngsten Öffnungsschritte infolge niedriger Inzidenzen beflügeln die Kauflaune der Konsumenten. Stephan Grünewald warnt jedoch vor gesellschaftlichen Spaltungen und dem möglichen Rückfall in alte Verhaltensmuster.

Von Mirko Jeschke | Fotos: RUNDSCHAU

Vor wenigen Monaten hatte die Pandemie das Land noch fest im Griff, nun sind die Inzidenzen wieder extrem niedrig. Wie ist der Seelenzustand der Deutschen?

Bis Ende April hatten die Menschen einen Tunnelblick, nach dem Motto „täglich grüßt das Lockdown-Tier“, nun kehrt die Aufhellung und Unbeschwertheit des letzten Sommers
zurück. Es herrscht fast eine Art Selbstvergessenheit, die Leute wollen angesichts der steigenden Temperaturen raus, sich neu einkleiden und generell wieder konsumieren.

Hat Corona seinen Schrecken endgültig verloren?

Ich würde sagen, die Menschen haben das Virus zunächst einmal verdrängt. Aber die saisonalen Effekte werden im Herbst wieder zu höheren Inzidenzen führen, zumal die Herdenimmunität bis dahin nicht erreicht werden kann. Das könnte zur Wiederkehr des Verdrängten führen und damit zu erneuten panikartigen Verhaltensmustern.
Der Ruf nach Schließungen könnte dann wieder laut werden, verbunden mit einem Schuldkonstrukt nach dem Motto: „Das hat uns der selbstvergessene Sommer nun eingebracht!“

Wie sollte Politik demnach mit den Bürgern kommunizieren?

Es kommt darauf an, schon jetzt ein Erwartungsmanagement zu betreiben, das eine gewisse Vorsicht für diesen Sommer weiterhin miteinbezieht und den Leuten klarmacht, dass sie irgendwann bildlich gesprochen wieder von Sommer- auf Winterreifen wechseln müssen. Politiker sollten sich aber generell differenzierter äußern, denn wir müssen raus aus dem bisherigen Schwarz-Weiß-Denken.

Wie genau kann das funktionieren?

Kontrollierte Öffnungsstrategien mit einem hohen Anreiz, sich testen zu lassen, können sicherlich sehr hilfreich sein. Es wird aber sehr davon abhängen, welche Regierung wir bekommen. Kanzlerin Merkel war ja stets eine Verfechterin der Strategie, Mobilität um jeden Preis zu reduzieren. Ich bezweifle, dass sich dies wiederholen wird, zumal wir mit den Impfungen eine deutlich verbesserte Ausgangslage haben. Ich gehe deshalb auch nicht davon aus, dass wir wieder an die Grenze der Intensivkapazitäten kommen werden.

Welche Nachholeffekte sehen Sie bei den jungen Konsumenten?

Lockdown war für diese Gruppe ja nichts anderes als der kollektive Vorruhestand. Natürlich wollen die Jungen inmitten dieser „Euphorie der Wiederermöglichung“ sofort ausgehen, feiern et cetera. Die Jugend hat ja zudem einen Bedeutungsverlust in der Krise hinnehmen müssen, da bisher vor allem die Alten – stellvertretend für die Mehrheitsgesellschaft – im Fokus standen. Das könnte zu einer Renaissance des Generationenkonflikts führen.

Werden wir Ihrer Einschätzung nach wieder in die alte Normalität zurückkehren?

Die Lockerungseuphorie wird schnell verfliegen und bei manchen Ernüchterung und eine Art Katerstimmung hervorrufen. Die Gesellschaft ist durch den langen Lockdown aus dem Tritt beziehungsweise Trott geraten. Es wird zu Alltags-Rhythmusstörungen kommen, die sich auch in einem Konsum-Flimmern zeigen werden.

Was meinen Sie damit?

Den raschen Wechsel von Kompensationskäufen und Konsumzurückhaltung. Wir werden im Spätherbst viele Insolvenzen sehen. Vor allem kleine Unternehmen, Selbstständige und Gewerbetreibende in Handel und Gastronomie werden es sehr schwer haben. Zudem werden wir bei einem knappen Drittel der Bevölkerung eine Lockdown-Nostalgie erleben. Die Verklärung des Lockdowns als Zeit der Entschleunigung, der Überschaubarkeit, der Monothematik und der familiären Selbstbezüglichkeit setzt bei manchen Bürgern bereits ein.

 

Lesen Sie das Interview mit Stephan Grünewald auch in unserem E-Paper.

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