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"Lebensmittelhändler haben ihre digitalen Kanäle zu lange vernachlässigt"

Warum bleiben manche Regale im LEH in der Corona-Krise leer, obwohl es keine Produktionsengpässe gibt? Was haben Logistik und Algorithmen damit zu tun? Antworten von Olivier Goethals, der die digitale Transformation bei Carrefour vorantrieb.

Olivier Goethals, Head of Technology, Retail EMEA & APAC, Publicis Sapient.
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Von Martina Kausch | Fotos: Unternehmen/ Kausch

Warum klaffen aktuell in Corona-Zeiten bei manchen Einzelhändlern nach Wochen immer noch Regallücken bei begehrten Produkten? Technisches oder menschliches „Versagen“?

Olivier Goethals: Es liegt an einer Kombination von zwei Gründen. Erstens verwenden viele Lebensmittelhändler und Hersteller Algorithmen, um die Nachfrage vorherzusagen und die Versorgung mit Produkten entsprechend zu planen. Diese Algorithmen basieren auf dem Kundenverhalten der letzten Jahre sowie weiterer Informationen wie dem Wetter oder anstehender Großevents – wie beispielsweise der Fußball-WM oder dem Ferienkalender. Dadurch können Händler ihre Vorräte so niedrig wie möglich halten und den Kunden trotzdem das verkaufen, was diese benötigen. Die aktuelle Krise und die daraus folgenden Hamsterkäufe wurden von den Händlern und den Algorithmen nicht früh genug erkannt. Daher kommt es noch immer zu Engpässen. Eine plötzliche Nachfragespitze, wie sie die Krise bewirkt hat, kann nicht direkt durch eine erhöhte Produktion kompensiert werden. Es bedarf mehrerer Wochen, um eine solche Entwicklung abzufedern.

Daneben haben die meisten Lebensmittelhändler ihre digitalen Kanäle zu lange vernachlässigt und bieten ihren Kunden auch heute noch keine Online-Einkaufsmöglichkeiten.

Warum sind „Hamsterkäufe“ wie aktuell bzw. offenbar „unvorhergesehenes Verkaufsverhalten“ eine Herausforderung für die logistischen Prozesse?

Die Logistik- und Produktionsprozesse sind heutzutage global und fein aufeinander abgestimmt, so dass man „just in time“ produzieren kann. In normalen Zeiten führt dies zu einer hohen Effizienz und hält die Lagervorräte so klein wie möglich. Als Konsequenz sind die Lieferketten nur für leichte Schwankungen in der Nachfrage vorbereitet, nicht aber für Ereignisse wie Covid-19. Die plötzlich dramatisch höhere Nachfrage nach manchen Produkten hat zu einer Kettenreaktion geführt, der die Logistikprozesse nicht gewachsen sind. Viele Händler haben keine End-to-End-Sicht auf ihre Lieferkette – vom Produzenten bis zum Konsumenten – und können dadurch nur langsam Lösungen zur Beschaffung weiterer Produkte finden.

Welche Lösungen gibt es hier?

Die Händler sollten in Zukunft von vornherein mehr Sicherheitsvorräte für essenzielle Produkte einplanen. Dazu sollten sie auch schneller und konsequenter mit Verkaufsmengenbeschränkungen reagieren, wenn die Nachfrage plötzlich steigt. Eine weitere Maßnahme ist, den Preis drastisch zu erhöhen, sobald festgestellt wird, dass die Kaufmengen sprunghaft ansteigen. Zudem könnten Händler ihren Kunden anbieten, die fehlenden Waren nach Hause zu liefern oder zur Abholung bereitzustellen. Dadurch ließen sich Maximalmengen besser kontrollieren und die Kunden besser bedienen. Das bedeutet natürlich, dass die Händler in ihre digitale Transformation investieren müssten, um dies möglich zu machen.

Dass es funktioniert, zeigt beispielsweise Carrefour. Der französische Handelskonzern ist in der Lage, hunderttausend Lebensmittelbestellungen pro Tag an den Kunden zu liefern – inklusive der favorisierten Hamsterartikel wie Nudeln oder WC-Papier. Mittelfristig sollten Händler ihre digitalen Strategien überdenken und kanalübergreifende Angebote für die Konsumenten entwickeln. Denn durch das Zuhausebleiben bestellt der Konsument viel mehr online und wird sich daran gewöhnen. Ich bin davon überzeugt, dass nach der Krise das Digitalgeschäft viel stärker wachsen wird als zuvor. Nur Händler, die hier schnell agieren, werden gegen die Pure Player – also ausschließlich online agierende Unternehmen – bestehen können.

Wer kann diese Lösungen implementieren und wie hoch ist der Aufwand?

Beratungen, die auf digitale Transformation spezialisiert sind, können Händler unterstützen, eine digitale Strategie zu definieren und umzusetzen. Diese Strategie umfasst das digitale Angebot, das Kundenerlebnis, den Supply-Ansatz, das Mitarbeitererlebnis und die Modernisierung der IT-Systeme. Eine digitale Transformation ist ein langjähriger Prozess, der holistisch angegangen werden muss und mit hohem Aufwand verbunden ist. Die Unterstützung vom Top-Management ist daher extrem wichtig, weil das Unternehmen sich durch die Transformation grundsätzlich verändern wird. Nichtsdestotrotz können mit dem richtigen Ansatz erste Erfolge relativ schnell erzielt werden. Carrefour beispielsweise hat es geschafft, innerhalb von nur sechs Monaten eine neue E-Commerce-Website an den Start zu bringen, die das Wachstum im digitalen Kanal auf 25 Prozent pro Jahr beschleunigt hat – das schnellste im französischen Lebensmittelhandel.

Wie beurteilen Sie die Technikaffinität beim Thema Logistik/ Warenwirtschaftssysteme im deutschen Lebensmitteleinzelhandel im Vergleich zu der z.B. in Frankreich?

In der B2B-Logistik, also der Belieferung von Supermärkten, ist der deutsche Lebensmitteleinzelhandel sehr effizient und technisch versiert. Vor allem die Discounter haben dies voran gebracht. Was aus meiner Sicht noch fehlt, ist eine bessere End-to-End-Sicht auf die ganze Lieferkette vom Lieferanten zum Kunden, um so im Echtzeit Risiken zu identifizieren und nachzusteuern. Dies wird extrem wichtig, wenn sich der digitale B2C-Handel in Deutschland stärker entwickelt.

In der B2C-Logistik – also vom Einzelhändler zum Konsumenten – und im E-Commerce von Lebensmitteln liegt Deutschland weit hinter anderen Ländern wie Frankreich oder England zurück. Der Gesamtumsatz für den Online-Lebensmittelhandel in Deutschland liegt bei etwa 1,5 Milliarden Euro, wobei Pure Player wie Amazon und Hello Fresh je geschätzt zwischen 100 und 200 Millionen Euro Umsatz machen. Nur Rewe hat als einziger deutscher stationärer Lebensmittelhändler ein ernstzunehmendes Online-Angebot und erzielt damit um die 200 Millionen Euro Umsatz. Zum Vergleich: In Frankreich hat die Lebensmittelbranche in 2019 um die sieben Milliarden Euro Umsatz allein mit Click and Collect-Angeboten gemacht. Ich sehe hier ein riesiges Potenzial für stationäre Händler, die schnell in ihr digitales Angebot investieren, um von dem sich durch Covid-19 ändernden Kundenfokus auf die digitalen Kanäle profitieren zu können.

Olivier Goethals, Head of Technology, Retail EMEA & APAC, Publicis Sapient.
Alles leer - und warum? Eine Aufnahme aus dem Großraum München.
Alles leer - und warum? Eine Aufnahme aus dem Großraum München.

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