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Mensch, nicht Ressource

Arbeitskräfte sind Mangelware, und neue wachsen nicht auf Bäumen – ganz anders als die Erwartungen vieler Arbeitnehmender. Ist das so? Wer im Wettbewerb um die besten Arbeitskräfte bestehen will, braucht kaum mehr als ein paar raffinierte Tools und eine winzige Korrektur im Führungsverständnis.

Von Anke Pedersen | Fotos: AdobeStock/Alex

Wenn Ewa R. an der Krefelder Medi-Apotheke vorbeikommt, kann sie sich ein Grinsen kaum verkneifen. „Die haben immer noch niemanden“, feixt sie mit Blick auf den Aushang: „Putzfrau gesucht“. Als sie ihn vor zehn Monaten das erste Mal sah, war sie noch hineinspaziert, hatte sich vorgestellt und sogar einem Probeputzen zugestimmt.

Doch es war der Apotheker, der den Test nicht bestand: „Ich sollte nur während der Geschäftszeiten putzen und verschwinden, sobald Kunden den Verkaufsraum betreten“, schüttelt sie den Kopf. Arbeitszeiten jenseits des Publikumsverkehrs, einen eigenen Schlüssel gar? Für den Chef undenkbar! „Normalerweise ist das ein guter Job“, findet die erfahrene Kraft, „aber eben auch Vertrauenssache, und unter diesen Bedingungen kann er lange suchen.“ 

Da ist der Apotheker keine Ausnahme. Ob Handwerk, Gastgewerbe oder der LEH – in zahlreichen Wirtschaftszweigen suchen Betriebe und Unternehmen händeringend nach geeigneten Mitarbeitenden. Bleibt der Sucherfolg aus, verkürzen Supermärkte beispielsweise ihre Öffnungszeiten, weil Kassen nicht besetzt oder Waren nicht eingeräumt werden können.

Und das liegt nicht allein am demografischen Wandel, der laut dem Nürnberger Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bis 2035 den Verlust von sieben Millionen Arbeitskräften bedeuten wird. Parallel zum demografischen findet derzeit ein gesellschaftlicher Wandel statt, und auf diesen sind Arbeitgeber wie der Apotheker schlicht nicht vorbereitet. 

Arbeitnehmer bestimmen den Markt

Und nein: Es geht nicht darum, plötzlich jedwede Ansprüche von Vertretern der Generation Z zu erfüllen – Stichwort Work-Life-Balance. Vielmehr geht es Arbeitnehmerinnen wie Ewa darum, nicht mehr als bloße „Ressource“ betrachtet zu werden, die sich den vom Chef diktierten Strukturen anzupassen hat. Gefälligst! „Der Arbeitsmarkt ist längst ein Arbeitnehmermarkt“, wissen Experten wie Thorsten Piening, Mitbegründer des Personalbeschaffungs-Start-ups Persomatch. Und dieser erfordere nichts weniger als „ein Umdenken auf Geschäftsführerebene“.

Wo dies nicht (rechtzeitig) einsetze, gehe das nicht nur zulasten des Umsatzes: Wenn Leistungen aufgrund von Personalmangel nicht erbracht werden können, schlägt das auch auf die wirtschaftliche Basis durch. Das verheerende Bild, das Post und Bahn derzeit abgeben, der damit verbundene Vertrauens- und Image-verlust zeigen ziemlich eindrücklich, wohin ein „Weiter so!“ führen kann. 

Wo also anfangen? Thorsten Piening ist überzeugt: „Anders als früher werden sich Arbeitgeber bei Arbeitnehmern regelrecht bewerben müssen.“ Doch das ist einfacher gesagt als getan. Denn geeignete Arbeitskräfte zu finden, ist nur der erste Schritt. Die eigentliche Kunst besteht darin, Ewa, Andreas und Kevin im Unternehmen zu halten, die propagierten Werte des attraktiven Arbeitgebers also auch zu leben.

Für Ersteres haben sich Start-ups wie Persomatch und Talk’n’Job erfolgreich in Stellung gebracht. Beide verbindet die Erkenntnis, dass sich die Stellensuche längst ins Digitale verlagert hat, zulasten der Zeitungsannonce, der Telefonnummer am Lieferwagen oder des Aushangs im Ladenfenster. 

Bewerbung auf dem Bierdeckel? Geht! 

Aber alles, insbesondere Annoncen, einfach eins zu eins digital zu adaptieren, ist nicht die Lösung. Es braucht eine niedrigschwellige Ansprache der Bewerber. „Schluss mit Old-School-Bewerbungen!“, ist denn auch das Motto des erst 2020 geründeten Start-ups Talk’n’Job.

Mit dem Ziel, die weitere Digitalisierung des Bewerbungsprozesses durch den Einsatz sinnvoller Technologien zeitgemäß voranzutreiben, haben sich die Gründer da-rauf konzentriert, den Erstkontakt herzustellen: zwischen Arbeitgebern und sogenannten Blue-Collar-Berufen wie Reinigungskräften, Konditoren, Produktionshelfern, Bäckereifachverkäuferinnen und Auszubildenden.

Dafür haben sie ein sprachgesteuertes Tool entwickelt, mit dem sich eine Bewerbung binnen zwei Minuten erledigen lässt. „Das Tool funktioniert über einen QR-Code, den Arbeitgebende auf Bierdeckel oder Plakate drucken oder online platzieren können“, erklärt Kommunikationschefin Karoline Bierlich. Diesen Code bräuchten Bewerber mit ihrem Smartphone lediglich zu scannen, und schon gehe es los. „Der Chat stellt dann abgesprochene Fragen, zum Beispiel: Hast du einen Führerschein? Bist du am Wochenende flexibel? Welche Kenntnisse von dir sollten wir kennen?“ Überdies könnten Interessenten auch noch ihre Vorlieben in einer Button-Auswahl hinterlassen: etwa ob sie gerne Teilzeit oder lieber Vollzeit arbeiten möchten.

Großer Erfolg, geringer Preis

Nehmen die Menschen denn so eine Chat-Bewerbung überhaupt ernst? „Ja, das tun sie“, bekräftigt Karoline Bierlich. „Ganz am Ende muss man seine Kontaktdaten hinterlassen und kann sie auch bearbeiten. Denn lieber haben wir Kandidaten, aus denen wir auswählen können, als gar keine.“

Auftraggeber erhalten anschließend digital aufbereitete, strukturierte Ergebnisse, die sie blitzschnell in ihre eigenen Marketing- und Karriere-Channel einspeisen können. Der Erfolg spricht für sich: Für seine Chat-Lösung ist Talk’n’Job nicht nur mit dem HRocks-Preis des „Fachkongress für Ausbildung Leitung Recruiting Entwicklung“ ausgezeichnet worden.

Allein der Rewe Group hat Talk’n’Job zwischen Mai 2021 und August 2022 mehr als 47.000 Bewerbungen zugeführt. „31 Prozent aller Bewerbungen kamen über Talk’n’Job, und am Ende waren 25 Prozent aller Einstellungen auf die Sprachbewerbung zurückzuführen.“ Mehr noch: „Wir konnten die Kosten extrem niedrig halten“, wirbt Bierlich: „Pro eingegangener Bewerbung haben wir die Recruiting-Kosten auf 9,69 Euro, die Recruiting-Kosten pro Einstellung auf 78,12 Euro reduziert.“ 


73,2 % aller potenziellen Arbeitnehmer beginnen ihre Jobsuche auf Google, bei Auszubildenden sind es sogar 84,3 Prozent.

Thorsten Piening, Geschäftsführer Persomatch


Jobsuche beginnt bei Google

Gegen Talk’n’Job sind Thorsten Piening und Tristan Niewöhner alte Hasen; sie haben ihr Start-up Persomatch 2017 gegründet, nur wenige Monate, bevor die weltgrößte Suchmaschine mit „Google for Jobs“ an den Start ging. Das ist wichtig zu wissen, denn Persomatch ist darauf spezialisiert, Unternehmen bei der Rekrutierung neuer Mitarbeiter online zu unterstützen – mithilfe von Stellenanzeigen bei Google. Zwar haben die meisten Unternehmen eigene Karriereseiten für ihre Ausschreibungen (s. EHI-Studie), „doch die meisten sind nicht Google-optimiert“, weiß Piening und bezeichnet das als Fehler, weil der Suchmaschinenanbieter allein in Deutschland mehr als 70 Millionen Suchanfragen zum Thema Jobs verzeichnet – pro Monat. Und „weil 73,2 Prozent aller potenziellen Arbeitnehmer ihre Jobsuche auf Google beginnen, bei Auszubildenden sind es sogar 84,3 Prozent.“ 

Aus diesem Grund optimiert ein automatisiertes Tool Stellenausschreibungen dergestalt, dass sie sofort aufpoppen, wenn der oder die Gesuchte seine beziehungsweise ihre Google-Suche startet. Wie das geht? Ganz einfach, sagt Piening: „mit der richtigen Priorisierung“. Statt gewerbliche Stellen bei Indeed zu schalten, kaufmännische Stellen bei Stepstone und für alle anderen ein bisschen Tiktok zu nutzen, genüge eine Werbeanzeige bei Google.

„Viele wissen gar nicht, dass Google permanent all unsere Daten sammelt: Wir bezahlen mit unseren Daten für die Suchen.“ Das ermögliche es dem Persomatch-Team, mit 500 bis 900 Keywords pro Anzeige sehr genau zu steuern, bei welcher Zielgruppe diese erscheint. „Wenn zum Beispiel Edeka in Bielefeld jemanden für die Kasse sucht, dann sucht man höchstens im Umkreis von 20, 30, 50 Kilometern; das kann man sehr genau einstellen.“ Hilfreich sei übrigens auch, sich das Wording der Suchenden zu eigen zu machen – „Job“ und „Friseur“ statt „Produktmanager Hair“ oder „Produktmanager Cosmetics“ beispielsweise – und auch aktuelle Trends zu berücksichtigen, „Kurzarbeitergeld aufstocken“, zum Beispiel.

Der Mensch ist nicht nur Ressource

Doch mit der Besiegelung eines Arbeitsverhältnisses allein ist es heute nicht mehr getan. Wer dem neuen Mitarbeiter in seiner „Bewerbung“ Dinge wie flexible Arbeitszeiten, gesundheitliche Leistungen und flache Hierarchien versprochen hat, ist an sein Wort gebunden. Andernfalls sind die Neuen schnell wieder weg.

Anna-Lena Haarkamp ist Organisationsentwicklerin bei der Drogeriemarktkette dm und in dieser Position dafür verantwortlich, die Rahmenbedingungen für „new work“ und „mobile work“ zu schaffen. Aus ihrer Sicht bietet der gesellschaftliche Wandel die „Chance, ein anderes Bild von Arbeit zu gestalten“: „Die Haltung in unserem Unternehmen ist: Der Mensch steht im Mittelpunkt, und wir können die Arbeit so gestalten, dass er sich möglichst einbringen und weiterentwickeln kann, wenn er will. Der Mensch als Ganzes, als Arbeitnehmer, nicht als Ressource.“

Als Beispiel nennt Haarkamp die flexible Einsatzplanung bei dm. So sei es den Teams in jeder dm-Filiale selbst überlassen, sich abzusprechen und im Gespräch miteinander zu bleiben, „damit möglichst viele Bedürfnisse berücksichtigt werden können. Nichts ist vorgegeben, es ist ein Aushandlungsprozess, den der Filialleiter unterstützt.“

Um das potenziellen Bewerbern transparent zu machen, setzt man auf eine klare Strategie: „Wir schalten nicht nur Stellenausschreibungen in den sozialen Medien, wir geben dort auch Einblicke in unser Unternehmen.“ Erfahrene Führungskräfte wie Alexander Aisenbrey wissen, dass dies – noch – keine Selbstverständlichkeit ist.

2016 hat der Hoteldirektor die Initiative „Fair Job“ ins Leben gerufen, eine „partnerschaftlich handelnde Wertegemeinschaft“, um dem Ausbluten seiner personalintensiven Branche entgegenzuwirken. In den Statuten heißt es: „Wir setzen auf unsere Mitarbeiter:innen und ihre individuellen Belange. Ihnen gilt unsere Aufmerksamkeit. Sie in einem fairen Maß zu fördern und zu fordern, stärkt die gesamte Branche und unser aller Wertschätzung.“ Versprochen werden Augenhöhe, Verantwortungsbewusstsein, Verlässlichkeit und Vertrauen.


"Vor allem in den mittleren Führungsebenen brauchen wir einen Wechsel des Mindset."

Alexander Aisenbrey, Geschäftsführer, Der Öschberghof


Respekt und Wertschätzung

Was für so manchen Chef vom alten Schlag wie ein Schauermärchen klingen mag, spiegelt in Wirklichkeit das, was Menschen wie die eingangs befragte Ewa R. von ihrem Arbeitgeber erwarten: Respekt und Wertschätzung. Und obschon Aisenbrey selbst keine Personalsorgen mehr plagen, so weiß er doch, dass bis dahin noch ein weiter Weg zu gehen ist. „

Vor allem in den mittleren Führungsebenen brauchen wir einen Wechsel des Mindset. Wir müssen den Sinn unserer Arbeit aufzeigen, warum manche Änderungen gut sind und manche nicht, warum es beispielsweise nicht gut ist, zu schreien.“ Für den Hoteldirektor beginnt das mit einfachen Dingen wie Zuhören: „Wichtig ist, dass du mit dem Menschen sprichst, dich selbst nicht zu wichtig nimmst und zuhörst. Viele haben das verlernt, und da schließe ich mich gar nicht aus. Also müssen wir aus den Situationen lernen und uns weiterentwickeln.“


INTERVIEW

Was tun Sie bei dm, um Ihre 40.000 Mitarbeiter zu halten?
Der Erfolg von dm ist ein Erfolg unserer Mitarbeitenden und ihres Engagements. Deshalb möchten wir dafür sorgen, dass alle genau die Möglichkeiten bei dm finden, die sie sich wünschen und die sie motivieren, etwa unterschiedliche Arbeitszeitmodelle oder mobiles Arbeiten. Beispielsweise können unsere Kolleginnen und Kollegen in den dm-Märkten ihre Arbeitszeiten selbstständig untereinander abstimmen, und neben einem Zuschuss zur betrieblichen Altersvorsorge gibt es bei dm darüber hinaus eine Jahresabschlusszahlung, die von unserem Geschäftsergebnis abhängt, sowie Weihnachts- und Urlaubsgeld.

Wie wichtig ist das Einkommen? 
Das Gehalt ist nur ein Bestandteil von mehreren und ergänzend zu sehen. Wir bewegen uns in einer Kultur der Verantwortung, in der der Job sinnhaft sein soll. Wenn jemand ein Thema entdeckt hat, indem er sich finden und weiterentwickeln kann, dann unterstützen wir ihn darin bestmöglich. Allerdings muss man dazu auch Initiative zeigen. 

Wie gehen Sie mit sprachlichen oder kulturellen Unterschieden um?
Um den Einstieg für alle unsere neuen Kolleginnen und Kollegen so angenehm wie möglich zu gestalten, stehen ihnen Angebote wie Online-Sprachkurse, Einarbeitungspläne, digitale Lernangebote oder eine persönliche Begleitung beim fachlichen, sozialen und kulturellen Ankommen zur Verfügung. 


"Das Gehalt ist nur ein Bestandteil von mehreren und ergänzend zu sehen. Wir bewegen uns in einer Kultur der Verantwortung, in der der Job sinnhaft sein soll."

Anna-Leena Haarkamp, Organisationsentwicklerin, dm


 

INFO

 

PERSONAL GEWINNEN

Kaum eines der 100 größten Handelsunternehmen in Deutschland kommt laut einer aktuellen EHI-Studie zum Arbeitgeberauftritt des stationären Handels ohne eigene Karriereseite aus. Dennoch gibt es „noch Optimierungspotenzial“. Vor allem in puncto Sichtbarkeit und Benutzerfreundlichkeit respektive mobile Optimierung machen Unternehmen es potenziellen Bewerbern unnötig schwer: 

  • Die meisten Karriereseiten sind auf den Unternehmens-Websites schlecht auffindbar.
  • Bei einem Fünftel müssen Bewerber ein Benutzerkonto anlegen.
  • Das Gros fordert nach wie vor Lebenslauf (100 %), Anschreiben (92 %) und Zeugnisse (90 %), was zum Abbruch der mobilen Kandidatenreise führen kann, der gegenüber sich jedoch schon 2019 zwei von vier Bewerbern aufgeschlossen zeigten. Zwar ermöglichen immerhin 26 Prozent eine One-Klick-Bewerbung mit dem Lebenslauf auf einem Business-Netzwerk wie Linkedin, trotzdem werden oft noch zusätzliche Dokumente verlangt, was den Prozess erschwert.

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