Gibt es die Gierflation, von der manche Ökonomen sprechen? Die ungerechtfertigten Preisaufschläge im Lebensmittelhandel – zusätzlich zur Inflation?
Ich kann nicht nachvollziehen, was manche Ökonomen behaupten. Es werden von den Unternehmen weder Preis noch Mengen publiziert. Die Berechnungen zur Gierflation beruhen also mangels Daten auf vielen Annahmen. In Deutschland wird immer wieder gern verbal auf Unternehmen eingeprügelt. Ich halte die Diskussion insgesamt für inhaltlich flach.
Der Edeka-Vostandsvorsitzende Markus Mosa positioniert sich aktuell als jemand, der zugunsten stabilerer Preise auf Marge verzichtet.
Das ist ja in Ordnung. Aus seiner Sicht hat es ein Supermarkt nötiger, sich gegenüber dem Verbraucher als Anwalt der günstigen Preise darzustellen, als ein Discounter. Die Discounter stehen ja sowieso für ein anderes Preisversprechen. Ich prophezeie: Die Vollsortimenter Edeka und Rewe wie auch die Discounter werden in diesem Jahr weniger Geld verdienen. Sowohl für die meisten Hersteller als auch für den Einzelhandel werden in Deutschland die EBIT-Margen sinken. Die Verbraucher wollen Geld sparen.
Deswegen gibt es zur Zeit bei den Vollsortimentern eine Handelsmarken-Offensive. Ist es die richtige Strategie, das Angebot an Handelsmarken auszubauen?
Ja, das macht Sinn. Dass die Nachfrage nach Handelsmarken aktuell wächst, ist nachvollziehbar. Handelsmarken haben jetzt circa einen Marktanteil von 40 Prozent. Der Handelsmarkenanteil wird auch in Zukunft weiter steigen, aber dennoch gilt weiterhin: Der Handel braucht starke Herstellermarken. Interessant ist, wenn man sich den Preisanstieg genauer anschaut: Handelsmarken sind im Preis relativ stärker gestiegen als die Herstellermarken.
Verfolgen die Handelsunternehmen bei den Handelsmarken die richtige Strategie?
Ein strategisch durchdachtes Vorgehen sehe ich bei diesem Thema momentan nicht wirklich. Die Handelsmarken müssen aus meiner Sicht stärker emotional aufgeladen werden, damit sie „wirkliche“ Marken werden. Zudem muss die Handelsmarken-Architektur systematischer und professioneller angegangen werden.
Was bedeutet das konkret?
Als Unternehmensmarke ist Edeka schon stark emotionalisiert. Ähnliches müsste auf der Produkt-Markenebene passieren. Die Systematik der Handelsmarken, ihre Architektur, muss überarbeitet werden. Es stellen sich Fragen nach Verbindung und Anordnung der Handelsmarken auf der Produkt-Markenebene in Relation zur Unternehmensmarke. Auch muss man Antworten finden hinsichtlich der Anzahl der Handelsmarken, ihrer Positionierung und Anordnung zueinander und des Umfangs der verschiedenen Warengruppen, die eine Handelsmarke umfasst.
Resultiert der Aktionismus aus fehlender Strategie?
Ja, das denke ich auch. Hersteller und Handelsunternehmen müssen sich damit auseinandersetzen, dass sie in rückläufigen Märkten agieren. Für mich ist hier ein Paradigmenwechsel des Managements festzuhalten. In den letzten Jahren ging es, vereinfacht gesagt, immer aufwärts, jetzt sind viele Märkte rückläufig. Dies erfordert neue Management-Ansätze.
Das Niveau der Lebensmittelpreise wird auch in den nächsten Jahren hoch sein, selbst wenn die Inflation vielleicht 2024 sinkt. Umsätze von Unternehmen werden sehr häufig real, wenn nicht auch sogar öfters nominal, zurückgehen. Sowohl der stationäre als auch der Online- und der Omnichannel-Business-Handel werden harte Zeiten erleben. Die vergangenen Jahre waren für all diese Unternehmen vom Grundsatz gut. Das wird in den nächsten Jahren leider anders werden.
Martin Fassnacht
ist Inhaber des Strategie- und Marketing-Lehrstuhls der WHU. Er wechselt sich hier mit Stephan Grünewald (Rheingold), Trend- und Handelsforscher David Bosshart und Markenpsychologe Florian Klaus ab. www.whu.edu