Artikel

Wie geht’s, Quick Commerce?

Picnic von Edeka expandiert Zug um Zug, Rewe beteiligt sich an Flink – doch vom einst so marketingaggressiven Dienst Gorillas ist nur noch die Marke übrig. Welche Zukunft haben die gehypten Schnelllieferdienste?

Von Axel Stefan Sonntag | Fotos: Adobe Stock/faithie

Am Markt der Schnelllieferdienste scheiden sich die Geister. Einerseits übernahm Getir den einstigen Konkurrenten Gorillas, zudem haben sich die Dienste Flink und Wolt zu einer deutschlandweiten Partnerschaft zusammengeschlossen. Über die Hintergründe wird noch spekuliert, doch es kursiert die Annahme, dass das Gorillas-Geschäft „höchst unrentabel“ gewesen sei und der Dienst Geld verbrannt habe.

Auch bei Flink war offensichtlich nicht alles, um es mit der Farbe des Unternehmens zu sagen, ein rosarotes Lutschbonbon: Businessinsider berichten, dass es die österreichische Tochter nicht geschafft habe, auf absehbare Zeit profitabel zu arbeiten. Flink Österreich meldete deshalb Mitte Dezember Insolvenz an – mit einem zweistelligen Millionenverlust. Und Amazon hat Ende Januar den Mindestbestellwert für Fresh-Bestellungen von einst 20 auf 35 Euro fast verdoppelt. Zudem erhöhten sich einige Liefergebühren.

Das alles zeichnet ein eher trübes Bild der Branche. Doch Marktbeobachter wie der E-Food-Experte Matthias Schu, der E-Commerce und Handel an der Hochschule Luzern lehrt, glauben weiterhin an die Dienstleister. „Das wirkliche Potenzial liegt immer noch auf dem Supermarkteinkauf“, sieht er E-Food als Alternative zum klassischen stationären Einkauf.

Schu denkt sogar noch weiter, sieht langfristig zwei Modelle als realistisch: „Einmal einen Basisservice mit Lieferung am gleichen oder nächsten Tag mit Fokus auf größere Warenkörbe wie es Oda, Knuspr, Picnic, Rewe oder Bringmeister bereits vormachen. Zugleich sehe ich Chancen für Premiumservices, bei denen zwar tendenziell die Warenkörbe klein sind, die Verbraucher aber bereit sind, für eine ultraschnelle Zustellung Extrakosten zu bezahlen“, so seine Einschätzung (s. Interview unten).

Der QC-Boom hält an

Eine Analyse von NielsenIQ stellt fest, dass der Online-Lebensmittelhandel aktuell vor allem durch neue Quick-Commerce-Angebote mit jedem Quartal deutliche Zuwächse verbuchen kann. Im zweiten Quartal 2021 entfielen lediglich acht Prozent der Lebensmitteleinkäufe im Internet auf die schnellen Lieferdienste. Ein Jahr später hat sich der Anteil bereits auf 24 Prozent verdreifacht.

„Quick Commerce konnte während der Covid-19-Pandemie einen signifikanten Anstieg verbuchen, und manche Anbieter versprechen gar eine garantierte Lieferung innerhalb von zehn bis 30 Minuten. Daher erschließen Anbieter vor allem neue Käufergruppen, denen die schnelle Lieferung wichtig ist“, kommentiert Frank Küver, Geschäftsführer NielsenIQ. Vor allem junge Konsumenten schätzen die Vorzüge des QC, so die Marktforscher.

Die Zukunft des E-Food

Einkaufen gehen oder bringen lassen? Diese Frage stellt sich derzeit nur für einen kleinen Teil der Kunden. Fakt ist nämlich: Bis heute bleibt die Lieferung von Lebensmitteln nach Hause ein Nischengeschäft. Aber wird es das auch bleiben? Der Blick in die Glaskugeln der Marktforscher ist da nicht ganz klar. Zwischen 16 und 19 Prozent soll der Marktanteil des deutschen E-Food-Marktes im Jahr 2030 betragen. Diese Prognose gaben 2018 die Unternehmensberater von Oliver Wyman.

Deutlich vorsichtiger äußerten sich 2020 die Experten des Instituts für Handelsforschung: Sie halten einen Bereich zwischen 5,2 und 9,1 Prozent für realistisch. So oder so – vom jetzigen Markt-anteil von um die vier Prozent ist das alles noch sehr weit entfernt. Natürlich: E-Food umfasst das gesamte Onlinegeschäft und nicht nur die Schnelllieferdienste. 

Doch rein auf die Letzteren bezogen, scheint die Zukunft nicht rosarot. Erst recht nicht unter den derzeitigen wirtschaftlichen Rahmenbedingungen: Aufgrund der massiv gestiegenen Inflationsraten sehen die Berater von Roland Berger die Quick-Commerce-
Anbieter mit Herausforderungen konfrontiert: Verbraucher würden bereits jetzt ihre Ausgaben für spontane und emotionale Einkäufe reduzieren und ihre Einkaufsaktivitäten deutlich vorsichtiger planen.

„Infolgedessen erwarten wir, dass Quick-Commerce-Akteure ihre Umsatzprognosen in naher Zukunft zurückschrauben werden“, heißt es in einer im Dezember 2022 veröffentlichten Studie. Mehr noch: In Kategorien mit einer größeren Anzahl von Akteuren, wie zum Beispiel Lebensmittel, sei eine verstärkte Marktkonsolidierung wahrscheinlich, wenn Akteure fusionieren oder bestehende Einzelhändler diese aufkaufen. Zusammenfassend erwartet Roland Berger, dass ein Großteil des heutigen Hypes nachlassen wird. Überleben würden nur die effizientesten Akteure, diejenigen, die ihre Kosten niedrig halten und an ihrer Profitabilität arbeiten. 

Deutlich optimistischer scheinen das die Strategen von Oliver Wyman zu sehen. Sie befragten ebenfalls im Dezember vergangenen Jahres Quick-Commerce-Nutzer zu ihrem Einkaufsverhalten und ihrer Zahlungsbereitschaft beim Lebensmitteleinkauf. Das optimistische Fazit: „Schnelle Lieferdienste wie Flink und Getir etablieren sich als Alternative zum stationären Lebensmitteleinzelhandel“, heißt es.

„Die Quick-Commerce-Anbieter haben überraschend schnell bewiesen, dass ihr Geschäftsmodell nicht nur Spontankäufe bedienen kann“, kommentiert Jens von Wedel, Experte mit Schwerpunkt Handel und Konsumgüter bei Oliver Wyman. „Damit haben sie das Potenzial, sich zu einer ernsthaften Konkurrenz für Supermärkte zu entwickeln“, prognostiziert er. Obst und Gemüse sowie Milchprodukte lägen ganz vorne bei den bestellten Produkten, Fertigprodukte dagegen würden nur eine untergeordnete Rolle spielen – so die Auswertung. 

Lieferfenster werden sich anpassen

Schnelllieferdienste werden auf dem Land sicherlich auch in Zukunft schwer zu realisieren sein. Dass sie aber nicht mehr aus den europäischen Großstädten mit mehr als 500.000 Einwohnern verschwinden werden, glaubt Matthias Schu. Doch eines wird sich seiner Meinung nach verändern: „In Zukunft werden die Player nicht mehr in bis zu 15, sondern eher in 45 bis 60 Minuten liefern. Es geht darum, sich alle Chancen für eine Zusammenlegung von Bestellungen auf der letzten Meile offenzuhalten und so eine höhere Stoppdichte realisieren zu können.“

Wirtschaftlich(er) zu arbeiten sei das Gebot der Stunde. Gleichwohl bleiben für ihn Flink, Getir und Co. weiterhin eine Nische in einem von diesem Jahr an wieder mit „niedrigen, zweistelligen Wachstumsraten“ getriebenen E-Food-Markt. „Mit Glück werden QC-Anbieter einen Durchschnittsbon von um die 20 Euro realisieren können.“

Pricing-Modelle 

Die Lieferung von Lebensmitteln kann nicht umsonst sein, denn die Kommissionierung und Auslieferung auf der letzten Meile ist einer der größten Kostentreiber bei E-Food. Diese fünf Bezahlmodelle bieten Lösungen.

Allgemeiner Mindestbestellwert

„Du zahlst nie Lieferkosten oder andere administrative Kosten“, verspricht etwa Picnic. Dafür aber beträgt der Mindestbestellwert 35 Euro. Vorteil: aus Kundensicht ein transparentes, zum Bestellen einladendes Modell. Nachteil: Die Fulfillment-Kosten sind nicht über eine Liefergebühr abgedeckt, was den Deckungsbeitrag pro Warenkorb schmälert.

Variabler Mindestbestellwert

Flink (Rewe) setzt neben einem variablen Mindestbestellwert, der sich nach der Entfernung des Kunden zum nächsten Flink-Store richtet, zusätzlich auf Lieferkosten. Diese sind ebenfalls variabel: Je höher der Wert des Warenkorbs, desto niedriger die Liefergebühr. Nachteil: für den Kunden oft intrasparente Lieferkosten, die er erst im Checkout erfährt.

Staffelpreise

Die gestaffelte Liefergebühr ist das klassische Modell und unter Online-Lebensmittelhändlern weit verbreitet. Generell gilt: Je höher der Warenkorb, desto geringer die Liefergebühr, teilweise bis hin zur Gratislieferung. Betriebswirtschaftlich kann dies vorteilhaft sein – denn viele Kunden bestellen mehr, um die nächste Warenwertschwelle mit reduzierter Liefergebühr zu erreichen.

Fixgebühren mit Zuschlägen

Fixgebühren mit optionalen Zuschlägen für Extraservices zu kombinieren kann die höhere Zahlungsbereitschaft einzelner Kundengruppen abschöpfen. Knuspr berechnet zum Beispiel für die Liefergebühr im Rhein-Main-Gebiet an Montagen je nach Tageszeit zwischen 90 Cent und 6,90 Euro. Für das optional buchbare 15-Minuten-Lieferfenster gilt ein Aufpreis von 4,90 Euro. 

Flatrate

Eine Flatrate bot zeitweise Rewe an: Für den gebuchten Zeitraum waren damit alle Zustellgebühren abgedeckt, sechs Monate kosteten ab 35 Euro. Aber: Seit Beginn der Pandemie sind Neubuchungen ausgesetzt. Psychologisch betrachtet kann ein Abo sinnvoll sein: „Der Kunde kauft wiederholt und gewöhnt sich so an den Shop. Das beste Beispiel: Amazon Prime.


INTERVIEW

Quick ja, spontan nein

E-Food-Experte Matthias Schu analysiert das Angebot der Schnell- lieferdienste. Gerade für junge Verbraucher seien sie eine Alternative zum stationären Handel. Doch so viel Spontaneität, wie die Anbieter vermitteln, erwarten die Besteller wohl gar nicht.

Herr Schu, müssen Schnelllieferdienste Supermarktpreise oder den Preiseinstieg 1:1 abbilden?
Das primäre Problem ist die antrainierte „Geiz-ist-geil“-Mentalität, kombiniert mit einem reinen Preisfokus als einzigem Differenzierungskriterium. Dabei geht es online gar nicht so sehr nur um Preise, sondern um Convenience und Zeitersparnis. Um einen verlässlichen, qualitativ hochwertigen Service, eine gute Lieferleistung und um regionale Produkte und viel Frische. Dann shoppen Kunden online. Und sie bleiben dort. Mit verheerenden Folgen für die Flächenproduktivität: Steigt der deutsche E-Food-Anteil von jetzt rund vier auf zehn Prozent, werden die meisten Läden mit Flächenproduktivität und Fixkosten zu kämpfen haben.

Aldi will angeblich Penny nacheifern und ebenfalls bei E-Food einsteigen. Können sich Discounter das leisten? 
Das Discountsortiment ist eine der letzten unbeackerten Nischen im deutschen E-Food. Aldi geht nun den – richtigen – Weg, den einige Auslandsgesellschaften bereits scheinbar erfolgreich beschreiten. Die Discounter spüren immer deutlicher, dass sie gerade die jüngeren Zielgruppen mit ihren Läden nicht mehr erreichen. Besser ist also, man kannibalisiert sich mit einem eigenen Onlineshop ein Stück weit selbst, anstatt die Umsätze dem Wettbewerber zu überlassen.
 
Wie quick ist QC, wenn Picnic den Bestelleingang einer Morgenlieferung am Vortag bis 13 Uhr erwartet?

QC heißt, dass zwischen Bestelleingang und Auslieferung nicht mehr als 60 Minuten liegen und sich die Anbieter auf Ankerartikel beschränken – das sind zwischen 800 und 2.500 Produkte. Damit agieren die meisten E-Food-Player in Deutschland nicht im QC. Sie müssen es aber auch nicht. Denn nur rund 30 Prozent der Onlinekunden erwarten ihren Einkauf am gleichen Tag. Die Mehrheit der Kunden bestellt für den nächsten oder übernächsten Tag. So spontan, wie uns Gorillas, Getir, Flink und Co. weismachen wollen, sind die Bedürfnisse der meisten Kunden also gar nicht.

Wann sind die Lieferkosten für Kunden und Händler optimal kalkuliert?
Einerseits gibt es die beschriebene „Geiz-ist-geil-Erziehung“, andererseits müssen Händler zumindest einen Teil ihrer Kosten abdecken. Helfen können wissenschaftliche Methoden, um die Preisbereitschaft der Kunden abzufragen. Dann lässt sich zumindest ein halbwegs optimaler Preispunkt berechnen, den Kunden noch akzeptieren.

Getir versucht sich mit einer „Servicegebühr“ und verkauft diese als Innovationsaufschlag. Kann das funktionieren?
Für mich ist das unglücklich kommuniziert. Worin liegt die Innovation bei Getir? Eine State-of-the-Art-App zu bauen? Besser wäre es, diesen Aufschlag in die Liefergebühr zu integrieren und den dem Kunden als Premiumservice für die „schnelle Lieferung“ zu kommunizieren. Nichtsdestotrotz werden die paar Cent die Kunden nicht davon abhalten, weiterhin zu bestellen. 

Artikel teilen

Gut informiert durch die Krise