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Interview Olivier Goethals: Mit IT-Plattformen in die profitable Zukunft

Welche Lösungen gibt es, damit der LEH auch mit veränderten Geschäftsmodellen und neuen Serviceangeboten Gewinn macht? Ein RUNDSCHAU-Gespräch mit Olivier Goethals über das Schicksal der Schnelllieferdienste, Abholstationen mit Kühlzone und Convenience-Stores.

Olivier Goethals.
Von Martina Kausch | Fotos: Reinhard Rosendahl

Schnelllieferdienste boomen, haben sie eine Zukunft?

Als alleiniges Geschäftsmodell haben Schnelllieferdienste keine Zukunft. Denn es ist eine Milchmädchenrechnung: Verdient ein Fahrer 10 Euro pro Stunde, muss der Arbeitgeber mit 20 Prozent Lohnnebenkosten, also insgesamt 12 Euro kalkulieren. Bei einer Liefergebühr von 1,80 Euro müsste der Fahrer mindestens vier Lieferungen pro Stunde erledigen, um rentabel zu arbeiten. Das erscheint utopisch. Man kann im Schnitt mit fünf Wegeminuten zum Kunden und fünf zurück zum Lager rechnen. Dazu kommt die Wartezeit beim Kunden. Wenn alles glatt läuft, ist damit das Gehalt des Fahrers bezahlt. Von großen Gewinnen kann keine Rede sein. Die Bruttomarge im LEH liegt, wenn die Handelskonzerne gute Einkaufspreise verhandelt haben, bei durchschnittlich 25 Prozent. Dies gilt natürlich nicht für alle Produkte. Die Rentabilität hängt stark davon ab, was die Kunden bestellen. Alkoholika bieten in der Regel eine hohe Marge, Produkte des täglichen Gebrauchs wie Mehl, Joghurt oder Dosenkonserven nur eine geringe. Bei frischer Ware muss der Händler zusätzlich hohe Nebenkosten für die Lagerung, Abschriften oder MHD einkalkulieren. Aufgrund der mangelnden Trinkgeldkultur in Deutschland wird langfristig der Stundenlohn der Fahrer auch steigen müssen. Die Rechnung geht also nicht auf. Es gibt weder Brutto- noch Nettogewinne. Der Mehrwert der Schnelllieferdienste ist klein und ihr Geschäftsmodell schwach. Daher gehe ich davon aus, dass das System implodieren wird.

Aber ein Start-up will Geld verdienen?

Natürlich wollen Start-ups Geld verdienen. Bei Schnelllieferdiensten wage ich die Erfolgsaussichten jedoch zu bezweifeln. Delivery Hero beispielsweise ist seit 2011 auf dem Markt und verdient noch immer kein Geld.

Nachdem sich vieles in der Finanzwirtschaft von der Realität abkoppelt, ist es eventuell ausschließlich für die Gründer lukrativ, das durch Finanzierungsrunden gehypte Start-up zu Geld zu machen. Dann ist keine Marge kein Problem. - Aber wir wollen darüber sprechen, wie der mittelständische LEH das Liefern zum lukrativen Geschäft machen kann. Sie sehen den Bedarf des Onlinehandels im LEH?

Es besteht definitiv Bedarf. Es gibt beispielsweise eine große Nachfrage für das Erledigen der Wocheneinkäufe über den klassischen Online-Lebensmittelhandel. Man wählt einen regelmäßigen Liefertermin und kann bis zu einem bestimmten Zeitpunkt den Warenkorb füllen. Aber auch andere Konzepte haben eine Zukunft.

Welche?

E-Commerce wird in Zukunft noch komfortabler. Während der Pandemie haben viele Menschen erstmals Lebensmittel über das Internet bezogen und die Vorzüge des geplanten, sich wiederholenden Online-Einkaufs erfahren. Hier kommt nun die Automatisierung ins Spiel. Da der wöchentliche Grundbedarf in hohem Maß gleich bleibt, kann der individuelle Warenkorb basierend auf Erfahrungswerten vergangener Einkäufe automatisch vorgefüllt und je nach Bedarf vom Kunden angepasst werden. Dies beschleunigt den Prozess ungemein und erleichtert auch dem Händler die Planung. Die Lieferung erfolgt dann über agile Logistik-Systeme, die flexibel regional und überregional arbeiten.

Das Aus für den stationären Handel?

Der stationäre Handel steht nicht vor dem Aus, aber er muss sich verändern. Viele Menschen haben nach wie vor das Bedürfnis, in ein Geschäft zu gehen, vor allem wenn es um Produkte geht, bei denen man die Qualität fühlen will. Es bedarf neuer Konzepte, die Erlebnisshopping ermöglichen. Kunden wollen Premiumprodukte und neue Marken ausprobieren.

Entscheidend ist, dass ein Händler die verschiedenen Kundenbedürfnisse umfänglich abdeckt, egal ob Schnelllieferdienst, regelmäßiger Wocheneinkauf oder In-Store-Erlebnis. Die Daten aus allen Kundenkontaktpunkten müssen in einem leistungsfähigen digitalen System zusammenlaufen. Dadurch kann der Händler eine 360-Grad-Sicht erlangen, die Kundenbeziehung vertiefen und passgenaue, personalisierte Angebote erstellen. Die Kundendaten lassen sich außerdem mittels Künstlicher Intelligenz anonymisieren und an Produzenten verkaufen, um die Produktentwicklung zu optimieren.

 

Das Angebot der Händler an Verkaufsformaten muss also größer werden?

Absolut. Der E-Food-Markt in Deutschland hat einen riesigen Nachholbedarf. In Frankreich und Belgien ist die Entwicklung weiter. Der französische Handelskonzern Carrefour beispielsweise bearbeitet seit der Pandemie mehr als hunderttausend Bestellungen pro Tag. Dabei ist der Anteil an „Click & Collect“ mit rund 70 Prozent sehr hoch. Da die letzte Meile bei diesem Service wegfällt, konnte Carrefour seine Logistik stark optimieren. Das Unternehmen setzt dabei massiv auf Automatisierung. In den großen Logistikzentren erledigen Roboter die Arbeit. Ein Format mit Zukunft sind auch die sehr beliebten kleinen Carrefour Convenience Stores, wie man sie zum Beispiel in Paris findet. Der Kunde kann online aus einem vollumfänglichen Sortiment wählen und zu Preisen wie in den großen Supermärkten einkaufen. Die Bestellung wird zentral zusammengestellt und kann schließlich bequem in den kleinen Läden abgeholt werden.

 

…und der kleine Store liegt in meiner Straße und wenn ich noch frischen Salat vergessen habe, nehme ich ihn noch on top mit?

Genau. Die Convenience Stores setzen voll und ganz auf Komfort und führen neben Frischware immer mehr Halbfertig- und Fertiggerichte. Carrefour bietet seinen Kunden in Frankreich außerdem die Möglichkeit, bestellte Waren „24/7“, also rund um die Uhr, an Abholstationen entgegenzunehmen. Die Abholstationen verfügen über verschieden temperierte Bereiche, wodurch auch ultrafrische Produkte erhältlich sind. Der Handelskonzern bietet zudem superschnelle Lieferungen an. Für diese Option, die teurer als die Abholung ist, arbeitet man mit diversen Schnelllieferdiensten zusammen. Der Kunde hat damit die Wahl aus einem breiten Serviceangebot. Carrefour kann seine Marge über die verschiedenen Angebote optimieren. Unsere Gesellschaft wurde dazu erzogen, zu glauben, dass Service nichts kostet. Das ist jedoch ein fataler Trugschluss, denn jeder Service muss bezahlt werden, um wirtschaftlich zu sein. Ultra Fast Delivery kann langfristig nur als Teil eines umfassenden Gesamtangebots rentabel sein.

Eine Nachfrage zu den kleinen Stores: Der Kunde holt große Einkäufe in kleinen Stores ab - das bedeutet, es muss Lager in den kleinen Stores geben, aber wohl auch so etwas, wie Just in Time-Anlieferung, wie beispielsweise in der Autoindustrie?

Das A und O im LEH ist die Logistik. Um die Convenience Stores bedienen zu können, bedarf es einer fortschrittlichen Fulfillment-Plattform, die eine einheitliche Sicht auf alle Aktivitäten ermöglicht und das Angebot, die Auftragsvorbereitung und die Lieferungen optimiert. Der Aufbau einer robusten Technologie- und Daten-Infrastruktur, wie Carrefour es getan hat, ist für Handelsunternehmen unabdingbar, um auch in Zukunft profitabel zu sein.

Was verhindert bislang, dass solche Systeme in Deutschland greifen?

Ein Grund dafür sind die Discounter, die in Deutschland extrem beliebt sind und bislang die Grundversorgung zu günstigen Preisen sicherstellen. Diese Discounter haben in anderen Ländern keinen so großen Stellenwert. Allerdings ändern sich auch hierzulande gerade generationenbedingt die Einkaufsgewohnheiten. Ein Blick zu unseren europäischen Nachbarn zeigt, welches Potenzial sich hier bietet. Ein Unternehmen wie Carrefour macht jährlich allein in Frankreich über 50 Milliarden Euro Umsatz.

 

Junge Leute sind doch eher bereit für Service zu zahlen als die Nachkriegsgeneration oder deren Kinder? Ich habe den Eindruck, junge Leute zahlen gerne ein paar Euro mehr, wenn sie sich nicht an einer langweiligen Kassenschlange die Beine in den Bauch stehen müssen?

Da bin ich komplett bei Ihnen. Für junge Leute ist auch der Umgang mit neuen Algorithmen und Künstlicher Intelligenz kein Problem, wenn ihnen dies besseren Zugang zu genau den Produkten ermöglicht, die sie sich wünschen, beispielsweise um sich bewusst zu ernähren. Sie bevorzugen spontanes Einkaufen und wollen weniger Zeit in der Küche verbringen. Das Leben in der Stadt wird heute durch eine Experience-Kultur geprägt und verändert damit die Ansprüche an Handelsunternehmen.

Was verstehen Sie unter einem integrierten Angebot?

Ein integriertes Angebot bedeutet für mich, dass ich als Kunde meinen kompletten Bedarf bei nur einem Händler personalisiert decken kann. Ich will als Kunde alles über einen einzigen Händler beziehen können, auch die Produkte, die ich bislang beispielsweise direkt beim Hersteller bestellt habe. Ich erwarte, dass mich der Händler erkennt und mir personalisierte Angebote und Services unterbreitet. Als Besitzer einer Treuekarte wünsche ich mir zum Beispiel, dass der Händler weiß, wieviel Kaffee ich monatlich verbrauche. Sollte ich weniger benötigen, erwarte ich, dass er beim nächsten Lieferslot etwas zurücknimmt. Dazu kommen die Möglichkeiten von Smart-Home-Geräten: der Kühlschrank, der erkennt, wenn die Milch ausgeht und selbstständig für Nachschub sorgt, der Wassersprudler, der automatisch Kartuschen nachbestellt – gefragt sind holistische, ganzheitliche Konzepte, die immer den Kunden im Fokus haben.

Flexible Angebote für die flexiblen Bedürfnisse des Kunden…

Ich will als Kunde meinen individuellen Bedürfnissen entsprechend personalisierte Angebote vom Händler meines Vertrauens erhalten, egal ob ich nun Veganer, Vegetarier oder Fleischesser bin. Ich will die freie Wahl haben, wann, wo und wie ich die Produkte erhalte, sei es per Click & Collect, Lieferung oder Ladenkauf. Ich erwarte außerdem ein preislich attraktives Angebot. Künstliche Intelligenz und moderne Algorithmen machen all das möglich. Diese Möglichkeiten bleiben jedoch Handelsunternehmen vorbehalten, die das Investitionsvolumen in die erforderliche IT-Infrastruktur stemmen können. Ohne Investitionen geht es nicht.

Der Schlüssel sind Lösungen aus der Informatik?

Ein starkes technologisches Fundament ist der Schlüssel zum langfristigen Erfolg. Lebensmittelhändler benötigen eine robuste Technologie-Plattform, die die Kunden über alle Kanäle und Angebote hinweg bedienen kann. Heute erkennt Sie der Händler nicht, wenn Sie einen Supermarkt besuchen. Moderne technologische Systeme hingegen ermöglichen maximale Kundenzentrierung und können Ihnen beim Betreten des Geschäfts beispielweise eine personalisierte Nachricht aufs Smartphone schicken: „Hallo Frau XY, heute haben wir neue Aufstriche im Angebot, denn Sie kaufen ja gerne Aufstriche.“ Auf diesem Weg lässt sich eine engere Kundenbeziehung mit Mehrwert für beide Seiten aufbauen. Beim US-Handelskonzern Walmart können registrierte Kunden beispielsweise eine schnellere Kasse benutzen. In anderen Supermärkten würden sie ihren gefüllten Einkaufswagen eventuell stehen lassen, wenn es zu lange dauert, und online bestellen. Eine enge Kundenbeziehung ist heute wichtiger denn je und digitale Serviceangebote sind unabdingbar, um diese Beziehung zu stärken.

Als soziales Wesen wird der Mensch dort einkaufen, wo diese Beziehung besteht. Wenn ich mich in der Nähe von fünf verschiedenen Märkten aufhalte, werde ich wahrscheinlich den Markt betreten, der mir gerade ein gutes Angebot auf mein Smartphone geschickt hat, weil er gemerkt hat, dass ich in der Nähe bin?

Personalisierung macht den Unterschied. In den USA sind solche individualisierten Angebote bereits gang und gäbe. Es ist nur eine Frage der Zeit, dass sie sich auch in Deutschland etablieren. Menschen sind bereit, ihre Daten dem Händler des Vertrauens zu überlassen, wenn ihnen im Gegenzug der Mehrwert einer vernetzten Welt mit einzigartigen Einkaufserlebnissen geboten wird. Bislang sind derartige Marketing-Aktivitäten im deutschen LEH überschaubar. Man liest im Supermarkt bei Rewe oder Edeka eher selten einen Hinweis in die Richtung: „Bestellen Sie bei uns online.“ Es wird spannend zu beobachten, welches Handelsunternehmen hierzulande mit einer digital-analogen Gesamtstrategie bei den Kunden punkten wird.

Zur Person

Olivier Goethals Olivier Goethals ist Head of Technology beim Beratungshaus Publicis Sapient. Der Wirtschaftswissenschaftler leitet das Technologie-Team für Retail-Unternehmen. Beim französischen Handelskonzern Carrefour trieb er die digitale Business-Transformation maßgeblich voran, führte Carrefours französisches Digitales IT-Department und verantwortete die globale Technologiestrategie der gesamten Gruppe.

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