Es gibt wohl kaum ein Thema, das seit Jahren die Gemüter weit über die Marketingabteilungen hinaus so beschäftigt und bisweilen derartig erhitzt, wie die Frage nach der „Führung der Marke“. Und obwohl wir heutzutage so viel über unsere Kunden durch Marktforschung, Consumer Insights, tiefenpsychologische Interviews, Milieustudien in „Sinus und Cosinus“ sowie Verhalten in Echtzeit wissen wie nie zuvor, ist allein die Frage, was überhaupt eine Marke zur Marke macht, bereits ein veritabler Streitpunkt. Markendefinitionen gibt es im deutschsprachigen Raum mehrere Hundert – allein im Bereich der Ökonomie.
Für einen Juristen beginnt eine Marke mit einer Eintragung, für einen Designer mit einem schicken Logo. Ein klassischer Werber geht davon aus, dass er mit einer aufmerksamkeitsstarken Kampagne eine Marke „macht“. Vielleicht ist eben diese Vielseitigkeit einerseits das Erfolgsrezept der Marke als Thema und andererseits gleichzeitig auch der Kritikpunkt von Menschen, die nichts direkt mit der Marke zu tun haben. Und weil es keine einheitliche Sichtweise gibt, wird unter dem Begriff vieles angeboten und verkauft, was wissenschaftlich betrachtet höchst fragwürdig ist. Die Marke ist selbst zur Marke geworden.
Die „Erfindung“ der Marke
Oft hat man den Eindruck, dass die Marke etwas sehr Neues und Trendiges sei. Viele Unternehmen wie Apple, Red Bull, Airbnb oder Nespresso, um nur einige zu nennen, wirken wie Boten aus einer innovativen Welt: Ihr Auftritt setzt Standards in Technik, Stil und Gestaltung. Jedoch: Erste Marken gibt es seit mindestens 2.500 Jahren. So finden Archäologen regelmäßig Tonkrüge, die den lateinischen Schriftzug „Sine cera“ – ohne Wachs“ – tragen. Ein Qualitätsausweis, der den antiken Kunden verdeutlichte, dass die angebotenen Tonkrüge keine mit Wachs kaschierten Risse aufwiesen. Der Ausspruch hat sich bis heute als Grußformel im englischsprachigen Schriftverkehr unter „Sincerely“ erhalten und verdeutlicht, dass es jemand mit uns ehrlich und vertrauenswürdig meint.
Die moderne Form der Marke als Massenphänomen geht mit der Industrialisierung im ausgehenden 19. Jahrhundert einher. Die massenhafte Produktion von Waren sowie die Verstädterung der Bevölkerung und ein aufkommender bescheidener Wohlstand für immer breitere Bevölkerungsschichten, die sich (ein wenig) über den Bedarf hinaus einen bescheidenen Luxus leisteten, anonymisierte das Warenverhältnis: Kannte man zuvor noch den Hersteller einer Ware persönlich, so musste im Einzelhandel nun „blind gekauft“ und damit vertraut werden. Der Markenartikel als „vertrauensvoller Problemlöser“ entstand. Im Zuge des Wirtschaftswunders der 1950er-Jahre und der Ausweitung zunehmend diversifizierter Märkte galt es, unter einem bestimmten Namen bestimmte Erwartungshaltungen zu verankern, sodass die Öffentlichkeit, sich unter einer Marke „etwas vorstellen konnte“. Markensoziologisch handelt es sich bei Marken um nichts anderes als um „positive Vorurteile“, die wir gegenüber einem Unternehmen und seinen Leistungen haben – manchmal weltweit.
Die Macht der „positiven Vorurteile“
In der Regel hören wir über die negativen Auswirkungen von Vorurteilen und denken vor allem an ihre destruktiven, teilweise menschenverachtenden Implikationen und wehren uns zu Recht gegen sie. Die Tatsache, dass der Kampf gegen negative Vorurteile nie aufzuhören scheint, verdeutlicht nur ihre kultur- und zeitübergreifende Kraft. So wie ausdauernd negative Vorurteile wirken, ebenso stabil und durchgreifend treten eben auch positive Vorurteile auf: Wir trinken, ohne vorsichtig zu nippen, an einem Erfrischungsgetränk, beißen herzhaft in den Hamburger, setzen uns in ein Auto und prüfen kaum die Bremsen …
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Oliver Errichiello
Wirtschaftssoziologe und Konsumphilosoph Oliver Errichiello promovierte über „Markensoziologische Werbung“. Er lehrt Markensoziologie und Konsumpsychologie an den Hochschulen Mittweida und Luzern sowie der Universität Hamburg. Errichiello ist Fachmann für Markenpositionierung, Werbung und grüne Markenführung. Zudem ist er Autor von über 20 Sach- und Fachbüchern und regelmäßiger Interviewpartner zu den Themen Werbung und Konsum in renommierten Medien.